Verfasst von Hüseyin Yoldas:

Vergangene Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Mit den Bundestags- und Senatswahlen hatte es dabei weniger zu tun. Früh aufgestanden, machte ich mich auf den Weg nach Schönberg. Im Auto lief das Radio, RBB, wie gewöhnlich. Von Wahlerfolgen und historischen Verlusten war die Rede. Nachdem ich beim Team Büro angekommen war und sogar einen Parkplatz gefunden hatte, überprüfte ich mein Handy auf eventuelle Nachrichten bei diversen Messenger-Diensten. Eine Nachricht stach mir erst ins Auge und dann ins Herz.

Ein Heranwachsender, den wir seit 2 Jahren intensiv betreut hatten, war heute Morgen in der Türkei verstorben. Ich war schockiert. Wie sollte ich jetzt zu meinen Kolleg*innen gehen und ihnen diese Nachricht übermitteln? Ich musste an die gemeinsame Zeit mit dem jungen Menschen denken, an die Höhen und Tiefen in seinem Leben, während derer wir stets versucht haben, ihn bestmöglich zu unterstützen. Nach einer Stunde, allein im Auto, bin ich ins Büro gegangen. Ohne viele Worte zu sagen, setzte ich mich an den PC, um zu schreiben, was ich fühle und meine Kolleg*innen auf diesem Weg wissen zu lassen, dass wir –wieder einmal- einen Jugendlichen verloren haben.

Erst neulich wurde uns von einem Mitarbeiter des Bezirksamts die Frage gestellt, wer eigentlich unsere Zielgruppe sei.

An dieser Stelle bietet sich nun die Möglichkeit, einen jungen Menschen unserer Zielgruppe zu beschreiben. Ein exemplarisches Fallbeispiel eines jungen Menschen, der uns Zugang zu seiner Lebenswelt gewährt hatte. Eine Lebenswelt, wiederum exemplarisch für die jungen Menschen in unserer Betreuung.

A. war ein junger Mensch aus –in jeder Hinsicht- prekären Familienverhältnissen. Seine Eltern trennten sich schon in seiner frühen Kindheit. A. wuchs bei seinem Vater auf, die Mutter lebt seit Langem in der Türkei. Der Vater heiratete erneut, eine deutschstämmige Frau, die A. stets „Anne“ genannt hatte („Mutter“ auf Türkisch). In seinem Leben ging vieles schief. Schule abgebrochen. Ausbildungsplatz verloren. Eine gescheiterte Ehe, aus der auch ein Kind hervorging. Falsche Freunde, schiefe Bahn, ein Kreislauf von Misserfolgen in einer Spirale nach unten.

Der Kontakt mit allen bestand kontinuierlich, mit schwankender Intensität. Im März dieses Jahres bat er uns um dringende Hilfe, als ihm alles über den Kopf zu wachsen drohte. Die Leistungen des Jobcenters waren nur bis Ende des Monats bewilligt, ebenso sein türkischer Pass und seine befristete Aufenthaltserlaubnis. Bis März war er in Schöneberg gemeldet, aus Gründen von Wohnungsnot war er kürzlich zu seinem Vater und der Stiefmutter nach Brandenburg gezogen, die Anmeldung dort hatte er gerade erst vorgenommen. Allein die Zuständigkeitsregularien zwischen Berlin und Brandenburg, was den Leistungsbezug betrifft, waren kaum zu überblicken. Dazu noch die aufenthaltsrechtlichen Komplikationen und on top die pandemiebedingten „kein Zutritt“-Regularien der Behörden.

A. erschien wie eine tickende Zeitbombe, weil er überall nur Steine in seinen Weg gelegt sah und nirgendwo einen Ausweg.

Als erstes haben wir mit ihm einen Termin beim türkischen Konsulat vereinbart, um seinen Pass zu verlängern. Danach versuchten wir einen Termin bei der Ausländerbehörde in Oberhavel zu bekommen. Das war aufgrund von Corona extrem schwierig. Das Amt hatte weder offen, noch haben sie auf Anrufe oder E-Mail reagiert. Nach diversen Gesprächen und Telefonaten hin und her bekamen wir eine Menge Anträge die er ausfüllen musste.

Das Jobcenter bräuchte den Aufenthaltstitel, damit sie weiter zahlen können und die Ausländerbehörde einen Beweis darüber, dass er seinen Lebensunterhalt gewährleisten kann, obwohl er inzwischen bei seinem Vater und der Stiefmutter angemeldet und seit 2 Monaten von Ihnen allein finanziell unterstützt wurde. Zudem bekam er noch einen Haftbefehl, da er wegen seiner Krankenkasse und einem Handyvertrag Schulden hatte. Auch den Gang zur Schuldnerberatung haben wir natürlich gemacht. Inzwischen waren schon 2 – 3 Monaten vergangen und er hatte immer noch keinen Termin bei der Ausländerbehörde. Eines Morgens ging er alleine zur Ausländerbehörde und machte vor der Tür Ärger, da er keinen Termin bekam. Die Stiefmutter rief mich an und bat mich schnell zum Landeseinwohneramt zu kommen, da der Junge nur auf mich hörte. Ich machte mich schnell auf den Weg. Als ich ankam umzingelte ihn schon die Security. Ich ging dazwischen, zeigte ihnen meinen Dienstausweis und bat dem Leiter ihm einen Termin zu geben, damit der Junge sich endlich ausweisen konnte.

Er wollte unbedingt in die Türkei, da seine Mutter inzwischen in der Türkei im Krankenhaus lag. Ich konnte ihn nicht überzeugen, dass es keinen Sinn machte. Er ist kein Arzt und ihm fehlten auch noch die Finanzen. Er sagte „Ich muss in die Türkei“. Seine Augen wurden immer größer und er immer lauter. Schließlich bekam er eine Fiktionsbescheinigung für ca. 6 Monate mit der er auch Reisen konnte. Ein Mensch der seit 20 Jahren in Deutschland lebt und ein Kind hat bekommt 6 Monate Aufenthaltserlaubnis. Das war für ihn eine Demütigung.

Nachdem wir auch noch weitere Formulare für das Jobcenter ausgefüllt hatten, wurde ihm ein einmaliger Barvorschuss von 215€ auf den Leistungsbezug ausbezahlt. Dieser Betrag sollte ihm ausreichen, bis über seinen Leistungsbezug entschieden wurde.

Daraufhin sagte er zu mir: „Ich wünschte ich wäre tot und käme noch mal auf die Welt. Ich kann nicht mehr.“ Als Sozialarbeiter und Mensch ist das das Schlimmste was man hören kann. Zumal einem auch die Handlungsmöglichkeiten und die Worte fehlen. Klar versucht man ihn zu motivieren und sagt irgendetwas aufmunterndes, aber auch uns bleiben manchmal die Hände gebunden. Ich fragte ihn, was er so dringend in der Türkei will. Fragte ihn, wie er das finanzieren will. Er meinte nur gib mir 1 Monaten Zeit. Geld ist kein Problem. Wenn wir so einen Satz hören, klingeln bei uns die Alarmglocken. Uns ist natürlich klar, was er damit meint. Belehrende Gespräche mit den Eltern fanden statt. Regelmäßig habe ich ihn angerufen. Treffen organisiert und versucht ihn aufzubauen. Dann hörten wir 2 Wochen von ihm nichts, bis er mir eine Voice Nachricht per WhatsApp gesendet hatte „Ich muss in die Türkei“ und hat sich für alle Hilfen bedankt. Dann war er weg und schickte mir noch ein Foto von seiner Geburtstagsfeier, welche er in Alanya gefeiert hatte. Das war die letzte Nachricht von ihm. Heute Morgen bekam ich von seinem Vater die Nachricht, dass er in der Türkei gestorben ist.

Ruhe in Frieden.

Etwas anderes kann ich nicht sagen. Nicht zum ersten Mal starb ein junger Mensch in unserer Betreuung und es wird leider auch nicht das letzte Mal sein. Und es wird jedes Mal auf’s Neue eine schmerzhafte Erfahrung sein, in letzter Konsequenz nur auf eine bestimmte Zeit, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten, versuchen zu können, Hilfe und Unterstützung zu bieten.

Ich hoffe, mit diesem Text eine anschauliche Schilderung zu bieten, welche Einzelschicksale sich tatsächlich hinter Schlagwörtern wie „Zielgruppen“ verbergen, welche teilweise inflationär gebraucht werden und dabei die Individuen hinter dem Begriff nur unzureichend anerkennen.

Hüseyin Yoldaş Team Schöneberg

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