Freitag, der 30.09.2022 3:30 Uhr, Berlin Wilhemsruh.

Marcel R. macht sich im weißen Mercedes Vito extra lang mit getönten Scheiben auf den Weg, um die Bande einzusacken

Über Dresden, Prag, Wien und Graz, vorbei an Maribor und Zagreb stehen wir gegen 21:30 Uhr am Grenzübergang Ličko Petrovo Selo zwischen Kroatien und Bosnien & Herzegowina. Am ersten Fenster geben wir unsere Pässe ab und dürfen weiterfahren. „HEY!!“ – auf der Bosnischen Seite winkt ein aufgeregter Grenzbeamter aus seinem Glaskasten. Ach ja, da war ja was…Grenzübergänge werden von beiden Seiten bespielt. Also Vollbremsung, Rückwärtsgang einlegen und reumütig ans Fenster des etwas mürrisch dreinblickenden Herren rollen. Wir geben wieder unsere Pässe ab, werden über Sinn und Zweck unserer Reise ausgefragt und dürfen dann – nicht ohne mit belächelndem Unverständnis bedacht zu werden – passieren.

Wo wollt ihr hin? Zu meiner Tante! Alle sechs? Ja! Stabile Tante!

Puh! Sechs Sozen in so einer auffälligen Karre, fast den Grenzübergang durchbrochen und dennoch nicht rausgezogen worden. Läuft! Auch die Tatsache, dass Alen seinen gesamten Charme in Landessprache hat ausspielen können, hat uns dabei sicher nicht geschadet. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass uns das den Arsch retten sollte. Erleichtert und euphorisch setzen wir unsere Reise fort und erreichen recht schnell Bihać – den Ort, an und um den herum wir in den kommenden Tagen viele beeindruckende Begegnungen haben und Erfahrungen machen werden. Unser Quartier liegt allerdings noch etwa 40 km weiter südlich, in Kulen Vakuf im traumhaft schönen Una Nationalpark.

Nach einer 18 stündigen Reise und einer kurzen Nacht trafen wir Maya und ihren Mann Michael im         Atlantis Bebi Project in Kulen Vakuf. Dort haben die beiden eine riesige ehemalige Textilfabrik umgestaltet, um einen Ort zu schaffen, an dem sich Menschen aus der Region und Besucher*innen gemeinsam künstlerisch, handwerklich und sportlich ausdrücken können. Sie haben sich viel Zeit genommen, uns die Geschichte des Ortes zu erläutern und die Räumlichkeiten mit den damit verbundenen unzähligen Möglichkeiten zu zeigen: Graffiti, Musik, Veranstaltungen, Festivals, Gardening, Holzarbeiten, Weben, Nähen, Sport und die Unterbringung von bis zu acht Personen. Wir sind jederzeit herzlich eingeladen, hier mit Fachkräften und Jugendlichen Projekte umzusetzen.

Dann begegneten wir Zlatan, dem Kopf bei SOS Bihać, einem Verein, der sich um die (medizinische) Versorgung Geflüchteter auf der Balkanroute kümmert. Bei unserer Ankunft lässt er uns nicht viel Zeit. Während er Sauerstoffflaschen für den nächsten Einsatz testet, beginnt er zu erzählen und zieht uns in einen Sog aus Bildern und persönlichen Geschichten, die ihm bei seiner Arbeit begegnen und uns zunächst vollkommen sprachlos zurücklassen. Sie unterstützen nicht nur Geflüchtete, sondern mit ihrem Krankenwagen, einer sehr gut sortierten Apotheke und ihrem Equipment auch den einzigen öffentlichen Krankenwagen in der Region und somit auch das marode öffentliche Gesundheitssystem. Auch dadurch haben sie es geschafft die ihnen anfangs entgegengebrachte Ablehnung – die Unterstützung geflüchteter Menschen stellt in der Region eine Straftat dar – abzumildern und sind mittlerweile sogar ein anerkannter Verein. Sie sind die Einzigen, bei denen die Versorgung und der Transport von Geflüchteten geduldet wird. Was es bedeutet, sich diesen Status in einem System zu erarbeiten, das von so vielen politischen und wirtschaftlichen Problemlagen sowie unterschiedlichen Interessen geprägt ist, wurde uns erst im Gespräch mit Zlatan so richtig bewusst. Einer seiner Sätze beschrieb das für uns besonders eindrücklich:

„Ich habe keine Feinde, sondern nur Freunde, die mich noch nicht verstehen!“

U Pokretu (in Bewegung), unser zukünftig wohl wichtigster Kooperationspartner, wurde Ende 2020 aus der Idee heraus gegründet, zusammen mit Locals und jungen Geflüchteten aus einem besetzten Haus gemeinsame Kunst-, Kultur- und Bildungsprojekte zu entwickeln. Marin, die zuvor in verschiedenen Geflüchtetencamps gearbeitet hat, bekam zusammen mit ihrem Mann Damir und der Unterstützung von Irfan (Krak) die Möglichkeit direkt gegenüber des besetzten Hauses einen Gebäudekomplex aus öffentlicher Hand im Gradski Park (Stadtpark) direkt an der Una zu beziehen. Damir, der in Bihac geboren und aufgewachsen ist, war für uns neben Marin eine der wesentlichen Schlüsselfiguren, da er uns durch sein enormes Netzwerk und seine unglaublich freundliche und offene Art viele Türen öffnete.

Kurz nach Beginn der Renovierungsarbeiten wurden die geflüchteten Menschen aus dem besetzten Haus vertrieben und so schien die ursprüngliche Vision nicht mehr realisierbar. Die beiden wollten sich von der Idee eines Kulturzentrums für junge Menschen aus aller Welt aber nicht verabschieden und so wurde einfach weitergearbeitet und Ideja – Center za mlade (Idee – Zentrum für Jugendliche) entstand: ein Kunst-, Kultur- und Bildungszentrum, welches von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Bihać zusammen mit Freiwilligen aus aller Welt organisiert wird. Das Zentrum bietet schon jetzt einen Seminarraum (Dank eines Beamers auch als „Kinosaal“ nutzbar), einen Tischtennisraum, einen riesigen Hof, eine Veranstaltungshalle mit Bühne und Sitzrängen im Stile eines Amphitheaters, Ton- und Aufnahmestudios, eine Boulderhalle und viele weitere Räume, die darauf warten nach den Bedarfen und den Ideen junger Engagierter gestaltet und bespielt zu werden.

In der direkten Umgebung befindet sich zudem ein perfekt ausgestatteter Basketball-Freiplatz mit kleiner Tribüne, der auch der kleinen Skater-Szene in Bihać als Anlaufstelle dient. Außerdem haben sie es geschafft den ersten Erasmus+ Volunteer Bosniens zu etablieren. Marco kommt aus Portugal und ist unter anderem für die Koordination diverser NGOs, welche die Räumlichkeiten nutzen, verantwortlich. Eine dieser NGOs ist für uns besonders spannend – ASuBiH.

Dabei handelt es sich um eine selbstorganisierte Schüler*innenvertretung, die sich um die Verbesserung des Schulsystems kümmert, sich für die Rechte von Jugendlichen einsetzt und gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik Welle macht. Außerdem organisieren sie Workshops, Theateraufführungen, Fahrten und Podiumsdiskussionen, um sich gemeinsam auszutauschen und Jugendlichen die Möglichkeit der Vernetzung zu bieten. Unter anderem haben sie es geschafft einen alljährlichen Hospitationstag „Socijalni Dan“ zu etablieren, an dem die Schüler*innen die Chance bekommen mit Betrieben und Ansprechpartner*innen in Kontakt zu treten.  Neben politischem Engagement und Öffentlichkeitsarbeit organisieren sie unter anderem auch das „Una Youth Festival“, ein Festival in Bihać, wo Musikgrößen aus ganz Bosnien auftreten. Wir hatten die Möglichkeit, sie bei einem ihrer Treffen vor dem Haus von U Pokretu kennenzulernen und waren vollkommen begeistert ob der Anzahl und der Energie, die von dieser Gruppe ausging.

Zu guter Letzt gab es da noch Mehmed und Irfan von Krak, die uns viele unserer Fragen zur Situation von Jugendlichen in Bihać, Kontakten zu Romnja*Organisationen u.v.m. beantworteten und uns mit Netzwerkpartner*innen versorgten. Krak ist eine Organisation, die sich als Plattform ganz unterschiedlicher Professionen versteht. Hier kommen Künstler*innen, Designer*innen, Pädagog*innen und Aktivist*innen zusammen, um sich unter anderem mit folgenden Thematiken auseinanderzusetzen: die vernachlässigte industrielle Vergangenheit Bosniens, die Auswirkungen ethnisch-nationaler Konflikte, posttraumatische Erfahrungen der Nachkriegszeit sowie Faktoren der Armut und Abwanderung. Zum Abschluss unserer Reise luden sie uns zu einer Ausstellungseröffnung ein, wo wir nochmal die Möglichkeit hatten, uns gebührend von allen zu verabschieden.

Es waren aufregende neun Tage, wir durften viele wundervolle Menschen kennenlernen, Ćevape essen bis zum Umfallen, bei der ein oder anderen Gelegenheit einen selbstgebrannten šljivo verköstigen, uns mit der Gischt eines der größten Wasserfälle der Region im Gesicht Propolis und Honig kaufen, allmorgendlich den Gesängen der Muezzine lauschen, von Straßenhunden durch verschlafene Dörfer geführt werden, an der Una grillen und noch so vieles mehr…

Wir freuen uns sehr darauf, diese Eindrücke und Erfahrungen in Zukunft auch weiteren Fachkräften und vor allem Jugendlichen ermöglichen zu können und die zarten Verknüpfungen zu verfestigen.

Was sollen wir abschließend sagen? Danke, Bosnien!

Danke an die inspirierenden Menschen, die wir vorangehend ausführlich beschrieben haben.

Danke an das wunderschöne Una-Tal, dass uns jeden Tag aufs Neue mit seiner unverschämten Schönheit ungläubig hat staunen lassen.

Danke an Elvira und Gangway, die es uns ermöglicht haben, diese unglaubliche Erfahrung machen zu dürfen.

Aber vor allem Danke an die unglaubliche Herzlichkeit, mit der Alens Familie gesegnet wurde:

An Alen – nein, nicht unser Alen, der uns bei unserer Ankunft direkt auf eine Verlobungsfeier gezerrt hat, um uns gebührend im Kreise der Familie willkommen zu heißen.

An Zina und Nito, bei denen wir wohnen durften und umsorgt wurden, als wären wir ein bisher unbekannter Zweig der Familie.

An Ismeta und Rifet – Alens Großeltern, die nun fünf Enkelkinder mehr haben und nicht aufgehört haben zu betonen, wie sehr wir ihnen ans Herz gewachsen sind.

Alen, Steven, Teresa, Manu, Berit & Marcel

Text von Alen, Teresa & Steven

korrigiert von Manu

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