Die Frage nach den Mädchen in unserm Arbeitsfeld ist in der Regel die Frage nach Mädchengruppen, die in gleicher Weise durch ihr gewaltbereites Verhalten auffällig werden wie die gleichaltrigen Jungen. Doch solche Mädchengruppen gibt es kaum.
So lautet die lakonische Antwort in der Straßensozialarbeit meist:
„Mädchen kommen vor. Unsere Gruppen sind jungendominiert.“
Mädchen sind, wenn überhaupt, als Freundinnen einzelner Jungen oder als „Anhängsel“ in die Gruppe integriert. Als solche werden sie auch in der Straßensozialarbeit, wie so häufig in der Jugendhilfe, kaum um ihrer selbst willen wahrgenommen.
Wir leisten Arbeit mit Mädchen vor allem dort, wo sich Sozialarbeiterinnen kontinuierlich dafür engagieren, oft auch gegen die Zwänge der täglichen Arbeit in einem männlich dominierten Arbeitsfeld.
Geschlechtsspezifische Arbeit innerhalb von Straßensozialarbeit ist allerdings nicht auf die Frage der Arbeit von Sozialarbeiterinnen mit Mädchen zu reduzieren.
Die Komplexität des Themas, die Widersprüchlichkeit der fachlichen Diskussion und die zu selten vorhandenen realistischen Möglichkeiten, auf der Straße langfristig geschlechtsspezifisch zu arbeiten, bilden das Spannungsfeld, in dem wir uns bei der Frage nach Ansätzen von Arbeit mit Mädchen innerhalb von Straßensozialarbeit mit auffälligen und gewaltbereiten Jugendlichen bewegen.
Da gibt es ein neues Mädchenprojekt und die Mädchen wollen nicht hin. Sie wollen bei „ihren“ Jungs bleiben. Bei „ihren“ Jungs, bei denen Sprüche wie „Ritzen raus“ keine Seltenheit sind.
Nicht selten sind dies Mädchen, deren konservative Rollenvorstellungen, deren Vorstellungen von ihrem späteren Leben, deren (scheinbar) duldsame Unterordnung unter die Jungen in der Gruppe, deren Konkurrenzverhalten untereinander uns Jugendarbeiterinnen erschrecken.
Der Begriff der akzeptierenden Jugendarbeit scheint sich in der Arbeit mit Mädchen nicht durchgesetzt zu haben.
Diese Mädchen sind keine Zielgruppe für die (männlich dominierte) Jugendpolitik im Zeitalter der Sonderprogramme gegen (männlich dominierte) Jugendgewalt, sie sind keine Zielgruppe für die (wieder anwachsende ?) Kinder-Küche-Kosmetik-Bewegung (schließlich bewegen sie sich ja in gewaltbereiten Jugendszenen), sie sind aber auch keine Zielgruppe für die Frauenbewegung.
Sie sind vielleicht noch die akzeptierte Möglichkeit, männliche Jugendliche durch ihren weiblichen Einfluß von Gewalt und Straffälligkeit abzubringen.
Damit scheinen sie, wenn man dem Bedrohungsgeschrei der Gesellschaft gegenüber den Jugendlichen Glauben schenken will, fast staatstragend zu sein.
Zielgruppe aber sind sie nicht.
Wie so oft, werden sie nicht um ihrer selbst willen wahrgenommen.
Sie sind verschlossen und zickig.
Sie lassen sich eher von einem (gutaussehenden) Sozialarbeiter ansprechen als von einer Sozialarbeiterin.
Sie sind in Zeiten der Verwaltungsreformen „betriebswirtschaftlich“ nicht vertretbar:
Ein Sozialarbeiter kann problemlos mit zehn Jungs durch die Gegend ziehen.
Wenn eine Sozialarbeiterin auf Anhieb drei Mädchen erreicht, ist das viel.
Sie haben Gewalterfahrungen gemacht, mit denen die Gesellschaft nur schwer umgehen kann; und wenn sie sich sinnlos betrinken und selbst Gewalt ausüben, kann die Gesellschaft damit noch viel weniger umgehen.
Wenn wir über geschlechtsspezifische Herangehensweisen in der Straßensozialarbeit diskutieren, ist die Auseinandersetzung vorprogrammiert. Das hat was zu tun mit unserem „Arbeitsauftrag“, mit unserem in jeder Hinsicht männlich dominierten Arbeitsfeld, mit unseren verschiedenen Blickwinkeln – aber es hat eben auch etwas damit zu tun, daß es auch uns als Frauen in diesem Arbeitsfeld in der Regel leichter fällt, mit den gewaltbereiten, sich martialisch gebärdenden und inszenierenden, aber eben auch offenen und kommunikativen Jungen umzugehen als mit diesen Mädchen.
Unsere (wenigen) Thesen zur Mädchenarbeit im Arbeitsfeld Streetwork sind keine Antworten, es sind Ansätze für eine dringend erforderliche Diskussion ; vielleicht sind sie für manche auch Provokation:
1. Unter dem Stichwort „Jugendgruppengewalt“ sind fast ausschließlich die negativen, oft auch für Unbeteiligte bedrohlichen Aspekte der gruppendynamischen Prozesse innerhalb jugendlicher Gruppierungen ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.
· In diesem Zusammenhang wird verständlicherweise eher positiv bewertet, daß Mädchen in diesen Gruppen kaum eine Rolle spielen.
· Wenig Beachtung findet bei dieser Bewertung, daß es sich bei diesen Gruppen-prozessen zunächst um normales jugendliches Verhalten handelt, daß das schrittweise (und manchmal auch abrupte) Loslösen von der Familie, die selbständige Eroberung des öffentlichen Raums, das Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, die Schutzfunktion einer Gruppe von Gleichaltrigen, die sich innerhalb der Gruppe entwickelnden sozialen Beziehungen u.v.a.m. wichtige Bestandteile jugendlicher Sozialisation und in der Phase des Erwachsenwerdens für Jungen und Mädchen gleichermaßen bedeutsam sind.
· Was den Mädchen „… weitgehend fehlt, sind die Risikoerfahrungen mit dem eigenen Körper und die Bandenbildung, die für die Entwicklung der Jungen in diesem Alter typisch sind“.
· Mädchen haben „… kaum das Bedürfnis, ihren Platz in der Welt durch Prügeleien und Mutproben zu beweisen. … Der Mangel an Risikoerfahrung und an Verletzungen (an denen ja auch die Selbstheilungskraft, die Elastizität und die Zähigkeit des Körpers erfahren wird) fließt zusammen mit der Sexualisierung als Objekt … .“
(vgl. Carol Hagemann-White)
2. Auswirkungen hat diese einseitige Jugendgruppendiskussion nicht nur auf die öffentliche Meinung, sondern auch auf die Finanzierungsmechanismen in der Jugendarbeit.
· Gerade bei der Finanzierung von sogenannten „Jugendgewaltprojekten“ wird auf Beruhigung und Befriedung gesetzt. Politisch gefordertes Erfolgskriterium für diese Projekte ist meist die Rückläufigkeit der (ebenfalls jungendominierten) Statistiken zur Jugendgruppengewalt.
· In Zeiten permanenter Mittelkürzungen ist eine bewußte Entscheidung für die differenzierte Arbeit mit Mädchen auf der Straße auch deshalb nicht unumstritten, weil sie Kräfte bindet, die bei einem Team von drei StraßensozialarbeiterInnen in einem Bezirk mit bis zu 400.000 Einwohnern sowieso schon mehr als ausgeschöpft sind.
· Doch wer sonst erreicht Mädchen, die extra für sie geschaffene Nischen in Form von Mädchenprojekten ablehnen ?
3. In der Straßensozialarbeit mit Jugendgruppen geht es nicht darum, problematische Jugendliche von der Straße zu holen um sie andernorts aufzubewahren.
· Da wir bei unserer Arbeit mit den Gruppen den für die Jugendlichen wichtigen Aspekt der Gruppenzugehörigkeit in den Vordergrund stellen, ist die Arbeit mit Mädchen und Jungen kaum längerfristig voneinander zu trennen.
· Geschlechtsspezifische Ansätze ordnen sich somit in insgesamt koedukative Herangehensweisen ein.
· In diesem Zusammenhang ist augenfällig, daß es zu selten gelingt, die Situation der Mädchen innerhalb der Gruppe mit einem „Innenblick“ zu erfassen und zu werten.
· Berücksichtigt werden muß nicht nur, welchen Stand die Mädchen momentan in der Gruppe haben, sondern auch, welcher Weg der eigenen Selbstbehauptung gegenüber anderen Gruppenmitgliedern, in bezug auf festgesetzte Hierarchien usw. bereits durch das einzelne Mädchen durchkämpft wurde.
· Das ist vor allem dann zu berücksichtigen, wenn das scheinbare Maß an Mißachtung, das sich die Mädchen durch die Jungen gefallen lassen, unser völliges Unverständnis hervorruft. Mit „authentischem“, in diesem Falle wahrscheinlich vorwurfsvollem Verhalten den Mädchen gegenüber wird es kaum möglich sein, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen.
4. Die Mädchen, mit denen wir es auf der Straße zu tun haben, vertreten sehr häufig ausgesprochen konservative Rollenmuster.
· Gleichzeitig spiegeln sie sich in dem Maß an Anerkennung und (Be-)Achtung, das sie durch die Jungen in der Gruppe erfahren.
· „Deutlich wir bei diesen jungen Frauen: Sie akzeptieren das Geschlechterverhältnis, sie unterwerfen sich männlicher Dominanz, lassen sich von diesen Männern funktionalisieren. Das in der weiblichen Sozialisation angelegte und Mädchen und jungen Frauen abverlangte Macht- und Aggressionsverbot führt dazu, daß sie öffensichtlich eigene, nicht ausgelebte Macht- und Aggressionsbedürfnisse auf Männer, männliche Jugendliche projizieren.
· Sie lassen sozusagen kämpfen, siegen, durchgreifen.
· Sie agieren ganz im Sinne traditioneller Geschlechtsrollenerwartung. Selbstentwertung der Frau, Unterstützung und Aufwertung des Mannes und seiner Taten. Ihr Lohn: Teilhabe an der Macht, Aufwertung durch ´Dazugehören´.“ (vgl. Christine Holzkamp)
· In dieser Beschreibung, die durchaus unsere praktischen Erfahrungen widerspiegelt, wird u.a. deutlich, in welch gesellschaftliche Dimension wir uns mit unserer Frage nach Arbeit mit Mädchen in unserem Arbeitsfeld begeben.
· Da wir realistischer Weise davon ausgehen müssen, daß wir mit unserer Arbeit nicht (und schon gar nicht kurzfristig) verfestigte gesellschaftliche Geschlechterhierarchien aufbrechen, bleibt uns die ganz praktische Frage nach Möglichkeiten der Veränderung in der ganz alltäglichen Jugendarbeit. Hierbei kann und muß es darum gehen, mit den Mädchen selbstbestimmt lebbare Perspektiven aufzubauen.
· Das setzt grundsätzlich Akzeptanz voraus. Akzeptanz in diesem Sinne heißt für uns, Lebenshilfen unabhängig von der Erfüllung irgendwelcher Vorbedingungen zu leisten. Eben auch unabhängig davon, ob ein Mädchen Lebens- und Rollenvorstellungen vertritt, die unseren Vorstellungen von „Frausein“ diametral entgegenstehen.
5. Wir arbeiten in allen Bezirken mit gemischgeschlechtlichen Teams.
· Da diese Teams gemeinsam mit den entsprechenden Gruppen arbeiten, leisten Frauen auch Arbeit mit Jungen und Männer auch Arbeit mit Mädchen. Die Rollenerwartungen und das Rollenverhalten innerhalb des Teams bewußt in die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen einzubeziehen bzw. schlicht durch das eigene Rollenverhalten (auch in der Umkehr gesellschaftlich vorgegebener Rollenmuster) Reibungsfläche zu bieten, sind Möglichkeiten, die nicht verschenkt werden sollten. Das setzt allerdings die Bereitschaft der Sozialarbeiter/innen voraus, eigene Rollenverständnisse bewußt in Frage zu stellen.
6. Viele der Mädchen wollen kein separates „Mädchenangebot“, sondern wollen sehr bewußt ihre Freizeit mit den Jungen der Gruppe gemeinsam verbringen.
· Trotzdem sollte die Möglichkeit immer offen bleiben, als Mädchen mit der Stretworkerin allein etwas zu unternehmen, zumal es für die Jungen eine Selbstverständlichkeit ist, bestimmte Dinge „unter sich auszumachen“. (Manchmal auch, weil´s mit der Freundin Ärger gibt, wenn sie von gewissen „Unternehmungen“ erfährt … .)
· Diese Möglichkeit für die Mädchen offenzuhalten, auch wenn sie über lange Zeiträume nicht genutzt wird, setzt eine sensible Abstimmung im Team voraus, ist also nur dann realisierbar, wenn auch die männlichen Kollegen die Arbeit mit den Mädchen als wichtig und gleichwertig betrachten.
7. Nicht nur in bezug auf den Weg des einzelnen Mädchens in der Gruppe, sondern insgesamt müssen
wir stärker als bisher nicht nur einen Zustand konstatieren, sondern den Blick für Entwicklungen offenhalten.
· Beim genaueren Hinsehen fällt oft auf: Die meisten Mädchen sind selbstbewußter, energischer, durchsetzungsfähiger als es auf den ersten Blick erscheint. Auch wenn diese Entwicklung der letzten Jahre nicht unbedingt in Richtung Frauenbewegung läuft; sie hat stattgefunden und muß als solche auch in der Mädchenforschung registriert werden.
8. Rollenmuster und -verhalten in Gruppen beziehen sich nicht nur auf das Verhältnis von Jungen und Mädchen.
· Die Freundin vom „Boß“ kann in der Gruppenhierarchie durchaus höher stehen als mancher Junge.
· Diese konkreten Innenstrukturen von Gruppen können bei der pädagogischen Arbeit mit diesen Gruppen nicht ausgeklammert werden. Die entsprechende Herangehensweise bei geschlechtsdifferenzierten Angeboten muß also sehr konkret und sensibel immer wieder neu gestaltet werden.
9. Auch wir unterliegen immer der Gefahr, die Mädchen in gemischten Gruppen über ihre Wirkung auf
die Jungen zu definieren.
· „P. hat jetzt kaum noch Zeit für Autoklau-Touren, weil er regelmäßig jobbt. Er will mit S. im Urlaub nach Griechenland und braucht dafür Geld. Bloß gut, S. scheint ihn gut im Griff zu haben … „. Auf die Nachfrage, wie dies denn S. sieht: Schulterzucken, Schweigen.
· Es ist Aufgabe der Sozialarbeiter/innen, in solchen Fällen aufmerksamer und sensibler zu sein; es sollte aber nicht Sache von Sozialarbeiter/innen sein, dem Mädchen einzureden, daß es ihr dabei schlecht gehen muß. Vile Mädchen finden in solchen Beziehungen, wo sie „positiv“ auf ihren Freund wirken, ein Maß an Anerkennung und Beachtung, das ihnen anderswo verwehrt wird. Dies ist unbedingt zu akzeptieren und anzuerkennen.
· Es muß aber Aufgabe von Sozialarbeiter/innen sein, mit den Mädchen gemeinsam auch andere, alternative Möglichkeiten zu schaffen, in denen Selbachtung und Selbstbewußtsein der Mädchen gestärkt werden können.
10. Auch wenn sie (noch) eher selten sind: Auch auf der Straße treffen wir immer wieder auf homogene Mädchengruppen.
· Diese Gruppen entstehen nach unserer Wahrnehmung meist dort, wo auch die Jungengruppen eher homogen sind – im Verhältnis wesentlich öfter bei ausländischen als bei deutschen Jugendlichen (s. dazu auch Interview mit Eva Koch).