vom Gangway-Team Neukölln
Was in der Silvesternacht in Neukölln passiert ist, macht uns traurig und ist inakzeptabel. Die Angriffe auf die Feuerwehr und den Rettungsdienst sind schockierend. Es ist nun wichtig, mit den jungen Menschen, die wir kennen, über das Geschehene zu sprechen. Wenn Gewalt gegen Menschen stattfindet – zumal in einer Intensität, die potenziell lebensgefährlich ist – müssen Grenzen aufgezeigt und Konsequenzen gezogen werden.
Darüber hinaus ist der Blick auf die Ursachen notwendig, um zukünftig solche Gewaltausbrüche zu vermeiden. Ereignisse wie in der Silvesternacht sind aus unserer Erfahrung weder ein “Neukölln-spezifisches” Problem, noch liegen die Wurzeln in der Flucht- oder Migrationsbiografie der Menschen. Dieses Bild wird jedoch gerade (und nicht zum ersten Mal) durch Medienberichte und „Fachmeinungen“ gezeichnet: Die Ereignisse der Silvesternacht seien Ausdruck eines Integrationsproblems bestimmter ethnischer Gruppen, welche basierend auf ihrer kulturellen und ethnischen Herkunft „unsere“ Werte ablehnen würden. Ablehnung von und Gewalt gegen Polizei und Feuerwehr – als Vertreter*innen des Staates – sei begründet in ihrer Herkunft und Identität.
Die Gründe, warum Menschen — und vor allem junge Männer — gewalttätig werden, sind vielfältig und kein Phänomen, das sich nur bei Menschen mit einer Migrationsbiographie wiederfindet. Gewalt gibt es in verschiedensten Bereichen: im Fußball, in Beziehungen, auf Demonstrationen, auf der Straße und in der Schule. Und es gibt strukturelle Gewalt in staatlichen Institutionen und durch Behörden. Gewalt ist, so platt sich das anhören mag, ein gesamtgesellschaftliches Problem und fordert daher Lösungsansätze, die mehr als eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesellschaft umfassen.
Jugendgewalt ist vor allem männlich
Betrachtet man Fälle von körperlicher Gewalt, fällt eine Gemeinsamkeit ins Auge: Es sind vorwiegend Männer und männliche Jugendliche, die diese ausüben. Wollen wir die Ergebnisse der Silvesternacht nachhaltig besprechen und Lösungsansätze finden, sollten wir das Thema Männlichkeit in den Vordergrund stellen. Warum sind es gerade männlich sozialisierte Menschen, die Gewalt ausüben? Das gesellschaftliche Bild eines Mannes ist bis heute durch Stärke, Durchsetzungsvermögen und (beruflichen) Erfolg geprägt, zum Beispiel in der Politik, im Sport oder auch in der Popkultur. In vielen Gewalthandlungen wird auch deutlich, wie wenig viele Männer mit Gefühlen wie Überforderung, Angst, Wut, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht umgehen können.
Komplexe Lebenswelten
Die jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, werden mit einem tradierten, aber gesellschaftlich weit verbreiteten Bild von Männlichkeit groß. Doch dieses Bild ist für sie sehr schwer oder gar unmöglich zu erreichen. Hierbei spielt das Thema Migrationsbiographie und Integration tatsächlich eine Rolle, jedoch in einer anderen Form. Neukölln gehört zu den finanziell schwächsten Bezirken Berlins. Die Chancen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg sind gering, wenn man in Neukölln groß wird. Hinzu kommt: Junge Menschen mit einer Migrationsbiographie erleben permanent Zuschreibungen, die sich auf ihre vermeintliche Herkunft beziehen. In der Mehrheitsgesellschaft und in staatlichen Behörden begegnen ihnen regelmäßig rassistische Stigmatisierungen. Persönliche Diskriminierungen und strukturelle Benachteiligungen gehören zu ihrem Alltag. Die oft hohen Anforderungen der Eltern an sie sind widersprüchlich: Einerseits erwarten diese von ihren Kindern, dass sie die Chance nutzen, die sie ihnen durch ihre eigene Migration eröffnet haben und „erfolgreiche Deutsche“ werden. Andererseits sollen sie die kulturelle und nationale Identität der Eltern beibehalten und weitertragen.
Die Herausforderungen und Hindernisse, mit denen junge Männer in Neukölln (und anderswo) leben, sind also vielfältig. In dieser Situation versuchen sie, eine für sie funktionierende Identität zu entwickeln – und werden damit oft allein gelassen. Weder die Eltern noch die Mehrheitsgesellschaft schaffen es, die jungen Menschen in ihrer Komplexität wahrzunehmen und entsprechend differenziert zu unterstützen.
Dies führt zu Frustration, Wut, einem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Die Unfähigkeit, mit diesen Gefühlen umzugehen, sie zu artikulieren und sie in ihr Verständnis von Männlichkeit zu integrieren, kann dazu führen, dass Gewalt für sie zu einem Weg wird, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, um eine Art von Selbstwirksamkeit und Macht zu spüren.
Haltung als Chance
Die Analyse von Gewaltursachen ist wichtig, um die richtigen pädagogischen Maßnahmen zu finden und auch die vielen anderen jungen Menschen nicht aus dem Auge zu verlieren, die trotz ähnlicher Erfahrungen eben nicht mit Gewaltausbrüchen gegen Andere reagieren, aber psychisch und physisch nicht weniger belastet sind.
Deswegen beschäftigt sich ein Teil unserer alltäglichen Arbeit genau damit. Mit unserer kritisch akzeptierenden Haltung bieten wir den jungen Menschen einen Raum, Diskriminierungserfahrungen aufzuarbeiten, Selbstwirksamkeit zu erleben, positive Lebensperspektiven zu erarbeiten und gleichzeitig auch die Konsequenzen von delinquentem Verhalten zu begreifen. Gerade männliche Jugendlichen, die wir zum Teil jahrelang begleiten, finden in uns ein Gegenüber, mit dem sie über Gefühle wie Angst, Frustration oder Wut sprechen können. Gemeinsam arbeiten wir daran, Wege zu finden, wie sie damit umgehen können. Wir bewegen uns mit unserer Arbeit durchaus in einem Spannungsfeld, denn zur kritischen Akzeptanz gehört eben auch, ihnen sehr deutlich zu spiegeln, welches Verhalten absolut inakzeptabel und nicht tolerierbar ist. Erfolg und Nachhaltigkeit von Verhaltensänderungen hängen dabei letztlich immer davon ab, wie stark gegenseitiges Vertrauen gewachsen ist und wie belastbar die aufgebauten pädagogischen Beziehungen sind.
Was in der Silvesternacht geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden und zieht Konsequenzen nach sich. Die Frage ist, wie sich solche Ereignisse in Zukunft vermeiden lassen können. Wir wünschen uns dafür, dass das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen, Diskriminierungserfahrungen und sozialer Benachteiligung im Vordergrund der Debatte steht. Wenn die Gesellschaft und die Pädagogik die jungen Männer in ihrer Komplexität wahr- und annimmt, lassen sich gemeinsam Wege und Lösungsansätze finden, wie diese mit ihren Emotionen umgehen, ohne gewalttätig zu werden, und so ein selbstbestimmtes und selbstwirksames Leben führen können. Dazu allerdings braucht es einen langen Atem – nicht nur von uns.
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