Am 5.12.2012 wurde in der Talkrunde „Anne Will“ zum Thema „Betteln, schnorren, Spenden sammeln – wird unser Mitleid ausgenutzt?“ zu einem großen Teil über wohnungslose Menschen diskutiert.
Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die heute Mitglied der CDU ist, mokierte sich über die Verhaltensweisen vieler Obdachloser und stellte die Behauptung auf, dass in Berlin kein Mensch auf der Straße schlafen müsse. Jeder könne zur sozialen Wohnhilfe (eine Abteilung des Sozialamtes) gehen und sich dort einen der 5800 Wohnheimplätze für Obdachlose geben lassen. Hierauf gebe es einen Rechtsanspruch. Eine Meinung, die Frau Lengsfeld nicht exklusiv hat, sondern von vielen politisch Verantwortlichen und einer breiten Öffentlichkeit vertreten wird.
Theoretisch sind die Aussagen von Frau Lengsfeld fast korrekt, es sei denn der / die Antragsteller_in verfügt über keinen deutschen Pass und hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Aber nicht nur für diese Personengruppe stimmt Frau Lengsfelds Behauptung nur in der Theorie.
Rein rechtlich sind, wenn sich ein Mensch unfreiwillig in Obdachlosigkeit befindet, die Grundrechte dieses Menschen verletzt und zwar dadurch, dass dessen Menschenwürde (Art. 1 GG) und dessen Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.2 Abs.2 GG) nicht mehr gewährleistet sind. Durch diese Verletzung des Grundgesetzes ist die öffentliche Ordnung gestört.
Wenn dies der Fall ist, tritt automatisch das Polizeigesetz des jeweiligen Bundeslandes (in Berlin das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz /ASOG) in Kraft, durch das die Polizei und die Ordnungsbehörden den Auftrag haben, Gefahren für die öffentliche Ordnung abzuwenden (§1 ASOG). Der Begriff Polizei bzw. Ordnungsbehörde kann in diesem Fall weiter gefasst werden. Die Zuständigkeit liegt bei der gesamten Exekutive (also den Verwaltungsbehörden) einer Kommune. Um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen, sind sie also verpflichtet den unfreiwillig obdachlosen Menschen mit einer Unterkunft zu versorgen (bei freiwilliger Obdachlosigkeit ist dies nicht der Fall, da hier die Menschenwürde nicht verletzt ist und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit überwiegt). Eine Notübernachtung, in der Menschen lediglich die Nacht verbringen können, ist hierbei nicht ausreichend, ein Aufenthalt auch am Tag sowie das Deponieren von persönlichem Eigentum muss gewährleistet sein.
Ein wohnungsloser Mensch, der eine Unterkunft haben möchte, muss bei der zuständigen sozialen Wohnhilfe vorstellig werden und eine Unterbringung beantragen. Die sozialen Wohnhilfen der Berliner Bezirke haben Zugriff auf ein zentrales Computersystem, in dem freie Plätze in Wohnheimen registriert sind (die sog. „Bettenbörse“) und können dann in der Regel in einem Mehrbett-Zimmer einen Platz vermitteln. Berlin verfügt derzeit über ca. 5800 Betten. Die Kosten für die Unterbringung muss der Antragsteller selber bezahlen, soweit er dazu in der Lage ist. Verfügt er nicht über ausreichend finanzielle Mittel, muss er beim zuständigen JobCenter bzw. beim zuständigen Sozialamt die Kostenübernahme beantragen. Soweit die Theorie.
Viele wohnungslose Menschen machen von diesem Anspruch keinen Gebrauch, weil es in den Wohnheimen häufig Konflikte gibt, da es auch nicht möglich ist, sich die Menschen mit denen man ein Zimmer teilt, auszusuchen. Diebstähle und Gewalt sind keine Seltenheit, Alkohol- und Drogenkonsum an der Tagesordnung. Zusätzlich haben einige Obdachlose psychische Probleme, was ebenfalls Konfliktpotential mit sich bringt. Aus diesen Gründen ist die Nachfrage nach Wohnheimplätzen nicht konstant. In der kalten Jahreszeit beantragen mehr Menschen eine Unterbringung als im Sommer. In den letzten Jahren sind jedoch alle Wohnheimplätze, auch im Sommer, ausgebucht. Wenn Plätze frei werden, sind diese kurz nach Öffnung der Sozialämter bereits wieder vergeben. Im Winter werden weniger Plätze frei, da die Menschen, die einen Platz haben, diesen möglichst behalten und die Anfragen nach Plätzen steigt. Können die Behörden niemanden mehr in einem Wohnheim unterbringen, sind sie nun eigentlich verpflichtet, die Menschen anderweitig unterzubringen, z.B. dadurch, dass sie ihnen vorübergehend eine Pension bezahlen. Es besteht auch die Möglichkeit leerstehende Unterkünfte zu beschlagnahmen. Ein Abweisen der Antragsteller_innen ist rechtlich nicht möglich, da wie eingangs erläutert, die Grundrechte des wohnungslosen Menschen verletzt sind. Wenn gar nichts anderes möglich ist, müsste auch in einem Luxushotel untergebracht werden. In der Praxis verweisen die sozialen Wohnhilfen im Sommer meist auf die Notübernachtung in der Franklinstraße und im Winter erhalten die Antragsteller_innen einen Plan der Kältehilfeeinrichtungen, in denen die Menschen nachts meist kein Bett, sondern lediglich eine Iso-Matte und eine Decke erhalten. Ein Aufenthalt am Tage oder die Sicherung des persönlichen Eigentums ist weder bei dem einen noch bei dem anderen möglich.
Berlin versorgt derzeit also noch nicht einmal die deutschen Antragsteller_innen mit Unterkünften. Für Menschen ohne deutschen Pass, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, ist die Situation noch dramatischer, da die Kostenübernahmen über das Sozialrecht geregelt werden. Für diesen Personenkreis stehen lediglich im Winter die Notübernachtungen der Kältehilfe zur Verfügung, für die man keine Kostenübernahme benötigt. Da sich die Verpflichtung zur Unterbringung der Menschen aber aus dem Grundgesetz ableitet, ist auch dies rechtswidrig, denn auch die Würde des Nicht-Leistungsberechtigten ist unantastbar und auch er oder sie hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Soviel zur Theorie von Frau Lengsfeld, dass kein Mensch in Berlin auf der Straße schlafen muss.
Der Senatsverwaltung für Soziales ist dieses Problem bekannt, sie beschreibt die Lage jedoch als „angespannt, aber noch nicht katastrophal“. Lösungsvorschläge sind bis jetzt von dieser Seite jedoch noch nicht gekommen. Im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat sich kürzlich der Sozialstadtrat Carsten Engelmann (CDU) zu diesem Problem geäußert und angekündigt dass er beabsichtige Gebäude zu beschlagnahmen.
Es bleibt festzuhalten:
1. Es mangelt an preisgünstigem Wohnraum
2. Wer keinen eigenen Wohnraum besitzt hat einen Anspruch auf Unterbringung nach dem ASOG, und zwar unabhängig von seinen Sozialleistungsansprüchen.
3. Das ASOG wird unzulässigerweise mit dem Sozialrecht vermischt.
4. Es stehen zu wenig Unterbringungsmöglichkeiten nach ASOG zur Verfügung.
5. Wer keinen Platz in einer ASOG-Einrichtung erhält wird unzulässigerweise an die Notübernachtungen der Kältehilfe verwiesen.
6. Es besteht rechtlich die Möglichkeit, wenn nicht sogar die Notwendigkeit, Räume zu beschlagnahmen bis ausreichend Raum geschaffen wurde.
7. Es stehen selbst in den Notübernachtungen der Kältehilfe zu wenig Plätze zur Verfügung (die Auslastung beträgt zum Teil in der Notübernachtung Lerther Straße über 200%)
8. Die Würde aller Menschen ist unantastbar!!!