Die Straßen Berlins sind unser Arbeitsplatz, dort kennen wir uns aus. Wir wissen um die Situationen und Herausforderungen der Menschen und Jugendlichen der Stadt. Dass wir bewusst Menschen auf der Straße adressieren, haben wir Kolleg*innen aus den USA zu verdanken, denn die Wurzeln des aufsuchenden Charakters unserer Arbeit finden sich in den Staaten.
Unser Wunsch nach neuen Perspektiven und einem besseren Verständnis der Ursprünge unserer Arbeit hat uns genau dorthin gebracht: in die Vereinigten Staaten von Amerika. Genauer gesagt nach Detroit und Chicago. Zum ersten Mal seit der Pandemie wagten wir, neun Gangwaymitarbeiter *innen, einen Blick über den Tellerrand. Wir unterhielten uns mit anderen Sozialarbeiter*innen, lernten spannende Projekte kennen und erfuhren mehr über die Geschichte der Stadt und des Landes. Mit jeder Begegnung wurde deutlich, wie anders und im Kern doch gleich die Tätigkeit als Sozialarbeiter*in auf den verschiedenen Kontinenten sein kann.
In den Gesprächen mit Professor Larry Grant von der School of Social Work, University of Michigan, und seiner Frau Christiane gingen wir den Anfängen der aufsuchenden Arbeit auf den Grund. Das Konzept entstand in den Vereinigten Staaten, ist laut Larry in Detroit kaum noch vertreten. Allgemein ist die Situation für soziale Projekte auf vielen Ebenen herausfordernd. Das zeigte sich auch im Austausch mit Desirea Simmons, die sich in der Stadt Ypsilanti für bezahlbaren Wohnraum einsetzt. In den USA werden auf staatlicher/politischer Ebene keine Gelder für die Sozialarbeit bereitgestellt. Es sind private Stiftungen, die Zuschüsse und Förderungen an soziale Projekte ausschreiben. Die finanziellen Mittel sind begrenzt, was zur Folge hat, dass ein Konkurrenzdenken zwischen den Projekten entsteht. Ein Kampf, wer helfen darf.
Ein Projekt, welches sich trotz der schwierigen finanziellen Situation in Detroit etablieren konnte, ist We Are Culture Creators. WACC ist ein Medienkunstkollektiv und Label, das junge Talente in ihrem künstlerischen Werdegang unterstützt und begleitet. Gemeinsam treten die jungen Menschen, die zum Teil bei Michael Reyes sogar ein Zuhause gefunden haben, wöchentlich in der Stadt oder in einem ihrer eigenen Veranstaltungsorte auf. Einige der Jugendlichen reisten letztes Jahr mit dem YAE Project, dem Young Artist Exchange, nach Berlin.
Die musikalische Ader Detroits konnten wir nicht nur angesichts der jungen Talente erleben. Auch die Geschichte des Techno Labels Underground Resistance haben wir uns näher angesehen. Einige der DJs sind auch im sozialen Feld tätig gewesen.
Wir tauschten uns mit Mike Banks und Cornelius Harris über die Geschichte Detroits aus und erfuhren, wie sie die Zeiten der Rezession musikalisch begegneten. Cornelius betonte, wie wichtig ist, dass junge Menschen etwas haben, auf das sie sich konzentrieren können, um nicht in kriminelle Strukturen zu geraten.
Die Koordinator*innen und Workshopleiter*innen von PCAP- dem Prison Creative Arts Project – sehen das ähnlich. Sie organisieren kreative Workshops in den Gefängnissen Michigans und geben Inhaftierten dadurch Struktur und die Möglichkeit, sich künstlerisch auszudrücken. Wir durften an einem der Vorbereitungsworkshops des Programms teilnehmen. Im abschließenden sehr bewegenden Panel fand ein Gespräch mit vier ehemals Inhaftierten, die an PCAB-Workshops teilnahmen., statt. Sie sprachen über ihre zum Teil jahrzehntelangen Hafterfahrungen und darüber, wie sie nun etwas im System verändern wollen.
Etwas ändern will auch das Team von Cease Fire Detroit, eine gemeindebasierte Partnerschaft zur Gewaltprävention, die sich gegen Gang- und Waffengewalt einsetzt. Wir hatten das große Privileg, sie bei einem Einsatz begleiten zu dürfen. In ihrer Arbeit geht es zum Teil um Leben und Tod. Denn täglich sterben Menschen durch Waffengebrauch in Detroit und den USA. Es war faszinierend und erschreckend zugleich zu sehen, wie erstaunt unsere amerikanischen Kolleg*innen waren, als sie erfuhren, dass Waffen in Deutschland nicht frei zugänglich sind.
Der Besuch im Cook County Jail wird noch lange nachwirken. An unserem letzten Tag in Chicago betraten wir Gebäude, deren Zugang dem Großteil der Menschen auf ewig verwehrt bleibt. Wir sahen, wo festgenommene Personen für die Haft registriert werden, wie Frauen in Mehrbettzimmern ohne jegliche Privatsphäre unterkommen (selbst die Toiletten sind für alle frei einsehbar) und dass die Mehrheit der Inhaftierten People of Color sind. Die Nachbesprechung und Reflexion mit Betsy Clark und dem Kolbe House Mission Statement war, um die Komplexität der Strukturen ein wenig besser zu verstehen und die Eindrücke zu verarbeiten hilfreich.
Die Einblicke in die soziale Arbeit und in die Strukturen des Justitzsystems in den USA zeigten uns viele Stärken unseres Arbeitsfeldes in Deutschland auf. Zum Beispiel das Glück, keine Waffengewalt als Grundproblem zu haben. Auch ist uns deutlich geworden, dass die sozialen Absicherungen eine noch größere soziale Spaltung vermeiden. Wir müssen darüberhinaus nicht, wie viele unsere amerikanischen Kolleg*innen, noch einen zweiten Vollzeitjob haben, um unsere Miete zu bezahlen. Auch unser Justitzsystem ist bei weitem nicht so problematisch wie das in den USA. All dieses Wissen lässt uns noch dankbarer auf unsere Tätigkeit blicken.
Außerdem nehmen wir zahlreiche Inspirationen mit. Das Projekt Re:Claim von Heather Martin und Desirea Simmons übernahm für einen Abend die Gerichtsräume des Civil Court in Ann Abor und besetze diese mit Kunst, Musik und Performances. Von der Tatkraft der Sozialarbeiter*innen inspiriert begannen wir direkt, uns ähnliche Projekte und Aktionen zu überlegen.
Neugierige Sozialarbeiter*innen, die eine Zeit im Ausland verbringen, bringen einen umfassenden Erfahrungsschatz mit nach Hause. Wenn wir heute wieder auf die Straße gehen, sind diese dieselben geblieben. Aber wir sind es nicht. Wir sind zurückgekehrt mit neuen Ideen, einer erweiterten Perspektive und Wertschätzung für Dinge, die wir bisher kaum wahrgenommen haben.
Ein Text Clara Schaksmeier!
The streets of Berlin are our workplace, here we know our way around. We know about the situations and challenges of the young and sometimes not so young people of the city. The fact that we can consciously address people on the street goes back to what colleagues from the USA originated many years ago, because the roots of the outreach character of our work can be found in the States.
Our desire for new perspectives and a better understanding of the origins of our work has brought us exactly there: to the United States of America. More specifically, to Detroit and Chicago. For the first time since the pandemic, we, nine Gangway staff members, dared to think outside the box. We talked with other social workers, learned about exciting projects and learned more about the history of the city and the country. With each encounter, it became clear how different and yet essentially the same the work as a social worker can be on these different continents.
In conversations with Professor Larry Gant of the School of Social Work, University of Michigan, and his wife Christiane, we explored the origins of outreach work. The concept originated in the United States but, according to Larry, is barely present in Detroit. In general, the situation is challenging for social projects on many levels. This was also evident in the exchange with Desirea Simmons, who advocates for affordable housing in the city of Ypsilanti. In the U.S., no money is allocated for social work at the state/political level. It is private foundations which accept grant proposals for funding to social projects. Financial resources are limited, which results in competition between projects. A struggle to see who can help.
One project that has been able to establish itself in Detroit despite the difficult financial situation is We Are Culture Creators. WACC is a media arts collective and label that supports and accompanies young talents in their artistic careers. Together, the young people, some of whom have even found a home with Michael Reyes, perform weekly around the city or at one of their own venues. Some of the young people traveled to Berlin last year with the YAE Project, the Young Artist Exchange.
We were able to experience Detroit’s musical vein not only in light of the young talent. We also took a closer look at the history of the techno label Underground Resistance. Some of the DJs have also been active in the social field.
We exchanged ideas with Mike Banks and Cornelius Harris about the history of Detroit and learned how they met and adressed the times of recession musically. Cornelius emphasised the importance of young people having something to focus on to avoid falling into criminal structures.
The coordinators and workshop leaders of PCAP – the Prison Creative Arts Project – see it similarly. They organise creative workshops in Michigan’s prisons, giving inmates structure and the opportunity to express themselves artistically. We were allowed to participate in one of the program’s preparatory workshops. The final very moving panel included a conversation with four formerly incarcerated individuals who participated in PCAB workshops. They spoke about their experiences in prison, some of which spanned decades, and how they now want to make a difference in the system.
Also wanting to make a difference is the team from Cease Fire Detroit, a community-based violence prevention partnership that works to address gang and gun violence. We had the great privilege of accompanying them on a mission. Some of their work is a matter of life and death. Because every day, people die from gun violence in Detroit and across the United States. It was fascinating and frightening at the same time to see how astonished our American colleagues were when they learned that guns are not freely available in Germany.
The visit to Cook County Jail will have a long lasting effect. On our last day in Chicago, we entered buildings that most people will never have access to. We saw where arrestees are registered for detention, how women are housed in multi-bed rooms with no privacy (even the restrooms are open for all to see), and that the overwhelming majority of those detained are People of Color. The debriefing and reflection with Betsy Clark and the Kolbe House Mission Statement was helpful to understand the complexity of the structures a little better and to process the impressions.
The insights into social work and the structures of the justice system in the USA showed us many strengths of our field of work in Germany. For example, the good fortune of not having gun violence as a basic problem. It has also become clear to us that social security prevents an even greater social divide. We are also fortunate to not have to work a second full-time job to pay our rent, as many of our American colleagues do. Our justice system is not nearly as problematic as the one in the US. All this knowledge makes us even more grateful for what we do.
We also take away a lot of inspiration. The Re:Claim project by Heather Martin and Desirea Simmons took over the courtrooms of the Civil Court in Ann Arbor for one evening and occupied them with art, music and performances. Inspired by the energy of the social workers, we immediately began to think about similar projects and actions.
Curious social workers who spend time abroad bring home a wealth of experience. When we go back to the streets today, they are the same. But we are not. We have returned with new ideas, a broadened perspective, and an appreciation for things we have rarely noticed before.
Written by Clara Schaksmeier!