Straßensozialarbeit in Berlin

30 Jahre Gangway – Orte, die uns wichtig sind I Volume 46

„Blumen sprießen auch aus Beton“

„Unsere Zielsetzung ist ein optimales Wohnen im innerstädtischen Bereich. (…) Den Einwohnern soll innerhalb ihrer Wohnungen ein größerer, individueller Spielraum und vor allem erweiterte Freiluft- und kleinere Grünzonen geboten werden.“ (Aus: Bauarchiv TS, HA III/54-56; Erläuterungen für das Bauvorhaben „Schöneberger Terrassen“ zum Richtfest am 09.03.1978)

Der Jugendliche lächelt ungläubig, als ich ihm den offiziellen Text vorlese. „Optimales Wohnen also, he?“ Er zieht langsam an seiner Zigarette und überlegt. „Ich habe mein ganzes Leben in den Terrassen verbracht. Hab hier das Laufen und das Fahrradfahren gelernt. Und glaub mir, das Leben ist dort ALLES, nur nicht optimal. Die Leute die da leben sind eher verzweifelt.“ Er lacht bitter auf. „Naja, wenn Du aber wie in einer Netflix Serie leben möchtest, dann ist es natürlich sehr optimal sogar. Jeden Tag Polizeieinsätze, fast täglich Kontrollen. Wie in ‚Straight Outta Compton‘. Okay, wir waren früher mit 17 oder 18 auch schlimm, das geb ich zu.

Da bin ich auch nicht stolz drauf. Aber heute laufen die 11-12 jährigen rum, als wären sie Kopien von uns Älteren. Heute, mit 14, stechen die schon. Mit 14! Und nicht hier Arme, Beine oder so, sondern direkt lebensgefährlich in den Bauch, Lunge, oder andere Organe. Ich hab das mit meinen Augen gesehen! Hier, mit diesen Augen! Die Kids werden immer krasser.

Und wenn ich so Leute höre von der AfD, von wegen Messermänner und so. Warum werden die denn zu Messermännern? Das „Warum“ interessiert die doch nicht. Hat es auch nie. Deshalb halten die Leute, die hier leben auch nichts von Politik. Es ändert sich ja eh nichts. Hier leben Leute in der dritten Generation von der Stütze. Es gibt hier einfach nichts. Keine Perspektive, keine Ablenkung. Man chillt bei gutem Wetter am kleinen Spielplatz, oder an den Läden da vorne. Bei schlechtem Wetter dann in den Treppenhäusern. Aber man ist halt immer hier und macht nichts. Dann kommt man halt auch auf dumme Gedanken.

Bei uns wird die Straße hier auch die Seelenf****r-Straße genannt. Denn die Straße hier, die f***t deinen Kopf, deine Seele. Wenn du hier um 18h mit 2000€ in der Tasche ankommst, ich schwöre es dir zu 1000%, um 23h ist das ganze Geld wieder weg. Komplett.

Was ich jemandem rate, der zum ersten Mal in die Terrassen gehen möchte? Ich würde ihm empfehlen, da gar nicht erst hinzugehen. Man sieht da nur Dramen. Es gibt keine schönen Sachen, die ich da erlebt habe. Oder die ich dir zumindest erzählen könnte. Weil sie nur für mich schön waren, aber für jemand von da draußen, der würde sich denken: ‚Was ist kaputt mit dem, dass er das schön findet?‘. Das einzig Gute hier ist, dass es wie in einer Familie ist.

Jeder grüßt sich, jeder kennt irgendeinen Bruder oder eine Mutter von einem anderen. Das ist eigentlich echt schön. Es ist ein Ort, wo man unter sich sein kann. Die Menschen hier haben nicht viel, aber was sie haben, das wird geteilt. Dadurch lernt man auch, aus ganz wenig viel zu machen. Und das nicht unbedingt kriminell.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte für die Terrassen, dann würde ich mir wünschen, dass es hier einen Jugendclub gibt. Irgendwas, wo die Kids abhängen können, noch mehr Kontakt haben zu Leuten wie euch. Spielen können, Sportangebote haben, schöne Sachen machen einfach, und nicht auf die Straße gehen. Denn da, auf der Straße, machen die den ganzen Quatsch. Außerdem gibt es hier so viele talentierte Sportler. Die Finger an meinen beiden Händen reichen nicht aus, um die zu zählen. Aber aus denen wird nichts, weil sie von niemandem erreicht und gefördert werden. Klar, man wird niemals alle erreichen können, und auch die, die man erreicht… wie heißt es so schön: ‚Man kriegt den Jungen zwar von der Straße, aber die Straße nicht aus dem Jungen‘. Das stimmt vielleicht, aber trotzdem, es lohnt sich. Denn Blumen sprießen auch aus Beton.“

Die Bilderreihe 30 Jahre Gangway – Orte die uns wichtig sind findet sich auch auf unseren Social Media Kanälen wieder. Beiträge wie diesen und noch viel mehr, gibt es auf:


Instagram


Facebook


Twitter