Straßensozialarbeit in Berlin

Tom auf der Suche nach dem Glück

,
taz, 1.April 2003, Ressort: lokal Berlin
Bei IHK und Landesarbeitsamt fiel der Junge aus Pankow bisher unter die Kategorie „nicht ausbildungsfähig“. „Viel schief gegangen“, lautet Toms Urteil: Er ist aus der Schule geflogen und hat Fortbildungen geschmissen. Nur ein Streetworker kümmert sich um ihn – und ab heute auch das neue Job-Center

TANJA NISSEN
„Cool“ ist eines der Wörter, die er ständig benutzt. Lockeren Schrittes kommt Tom* in das Pankower Büro des „jobteams Berlin“. Tom redet schnell und so, als ginge es um Computer oder um Dinge, die nichts mit ihm zu tun haben. Aber es geht um die vielen Probleme, die er mit seinen zwanzig Jahren schon mit sich herumschleppt. Seit er mit siebzehn und einem Hauptschulabschluss 1999 von der Schule flog, gleicht Toms Leben einer modernen Odyssee. Die Wendungen, die auf seiner Beliebtheitsskala ganz oben stehen: „viel Scheiße gebaut“ und „viel schief gegangen“.

Am heutigen Tag werden im Rahmen der Umsetzung der Hartz-Reformen in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow Job-Center eingerichtet, die sich auch um junge Sozialhilfeberechtigte wie Tom kümmern sollen. Er ist zudem einer von jenen rund 2.500 Berliner Jugendlichen, die für das Landesarbeitsamt und die Industrie- und Handelskammer in die Kategorie „nicht ausbildungsfähig“ fallen. Die Kriterien: fehlende Lernbereitschaft, Unhöflichkeit, Unpünktlichkeit, Unbrauchbarkeit.
Angefangen hat alles in der 7. Klasse. Die Mutter setzt ihren langjährigen Freund vor die Tür. Tom ist froh. Über den eigenen Vater weiß er nichts. Nach der Trennung will die Mutter das Leben genießen – Partys und neue Männer. Der Junge fühlt sich allein gelassen. „Ick hab dann in der Schule viel Mist gebaut.“ Er bleibt sitzen – einmal, zweimal.

Das ist einmal zu viel. Der Mutter steigen die Probleme über den Kopf. Sie schickt ihn zur Großmutter, die in Indien lebt. Erst fühlt Tom sich abgeschoben, dann findet er sich in die neue Situation. Es mag familiäre Geborgenheit sein, die er dort empfindet. Oma und Enkel verstehen sich, lernen ein bisschen Hindi, spielen die eine und andere Runde Monopoly. Er liebt seine Großmutter. Sie glaubt an ihn. Sie sagt immer, er solle Innenarchitekt werden. Tom verkündet das mit Stolz, seine Augen strahlen! Er bleibt ein halbes Jahr.

Zurück in Berlin, steht er vor neuen Problemen. Tom schafft zwar die achte Klasse, doch in der neunten geht es wieder bergab. Sein Onkel stirbt, seine Tante bringt sich um, die Mutter leidet unter starken Depressionen. Tom ist wieder ganz auf sich allein gestellt, die Sorgen um die Mutter fressen ihn innerlich auf. Zwar schafft er noch die Versetzung, doch auf der Klassenfahrt baut er wieder Mist. „Alk und Gras eben“, sagt er. „Ick bin als Einziger von 12 Mann von der Schule geflogen. Det fand ick dann nich mehr fair.“ Keinen interessierts. Tom bekommt den Hauptschulabschluss und muss gehen.

Mit der Mutter gibt es nur noch Streit. Im Herbst 1999 zieht er zu einem Freund. Die Nächte verbringen die beiden vor ihren Computern. Tagsüber schlafen sie. Mal bekommen sie Geld von den Eltern des Freundes, mal machen sie einen Job. „Aus dir wird ja doch nichts“, sagt sich Tom jeden Tag. Er hat Zukunftsängste, er sagt, er verdrängt sie nicht, aber es ist nicht angesagt, sie zu zeigen. Schließlich bricht alles zusammen. „Ick hatte keen Job und keen Geld und ooch noch Ärger mitm Soz.“ Als Tom sich 2000 schließlich an Thomas Georgie vom „jobteam Berlin“ wendet, geht es um seine nackte Existenz.

„Ein Freund hat zu mir gesagt, ruf den mal an. Es ist super! Ick kann Thomas immer anrufen.“ Tom vertraut dem Streetworker, der ihm erst einmal hilft, sich einen Überblick über seine Papiere zu verschaffen, zum Sozialamt zu gehen, damit wieder Geld für Essen und Miete da ist, kurz: Ordnung zu machen. Gemeinsam versuchen sie, eine Jobperspektive für Tom zu entwickeln. Thomas Georgie hilft Tom, sich zu bewerben und zeigt Möglichkeiten auf. Er hört auch einfach mal zu. Bedingungen und Vorschriften gibt es nicht.

Das „jobteam Berlin“ wurde 1999 im Rahmen des Jugendsofortprogramms der Bundesregierung ins Leben gerufen. Die Mitarbeiter beraten arbeitslose Jugendliche bei der Jobsuche nach dem Prinzip „Wir kommen zu den Jugendlichen“. Der Kleinbus des Beraterteams steht jeweils für ein paar Wochen in einem Bezirk, um dort die zu treffen, die offensichtlich nur noch für Drop-out-Statistiker interessant sind.

Thomas Georgie sieht in der demonstrativen Unlust von Gescheiterten wie Tom einen Protest gegen Eltern, Chefs, Verwaltung oder Betriebe. „Sie fühlen sich nicht verstanden, wissen aber nicht, wie sie ihre Rechte durchsetzen sollen. So mosern sie ein bisschen und sind weg.“

Tom will Systemnetzwerkadministrator werden, mit Computern arbeiten eben. „Ick weiß, dass ick damals Scheiße gebaut habe.“ Der junge Mann spricht übers Internet, über Songs im WAV-Format, über Netzwerke. Er jongliert mit Fachwörtern. Aber beim Berufsinformationszentrum (BIZ) muss er sich sagen lassen: „Das schaffst du sowieso nicht“, empört sich Tom.
Im BIZ bietet man ihm einen berufsvorbereitenden Kurs bei der Helmut-Ziegler-Stiftung an: Eine Kombination aus Schule und Job – je drei Wochen Malern, Büro und auf Tour mit einem Elektroinstallateur. „Ick musste gleich auf die großen Baustellen. Det wollte ick nich, det hab ick denen ooch gesagt.“ Doch es interessierte keinen, was Tom wollte. Da ist er weggeblieben.

Ende 2001 startet Tom einen neuen Versuch. Gemeinsam mit Thomas Georgie geht er zum Arbeitsamt. Ein Platz beim Bildungsmarkt e. V. ist frei. Dort kann er seinen Realschulabschluss nachholen. Alternativen gibt es nicht, mit der Zusage aber wiederum Probleme beim Sozialamt, das nicht mehr bezahlen will. Für Fortbildung ist das Arbeitsamt zuständig. Und um die Zeit dazwischen muss Tom sich selber kümmern. Die halbe Woche geht er zur Schule, die andere Hälfte der Zeit repariert er auf einer ABM-Stelle in der Bikecity des Bildungsmarkts e. V. in Moabit Fahrräder.

Alles ist okay, bis auf die Stimmung in dem Laden. Die Gruppe – eine eingeschworene Gemeinschaft. Die meisten sind Migranten. Tom erzählt nur zögernd: Ärger gabs und Beschimpfungen. „Hey, du Stricher“ – solche Sprüche eben. Er hält dagegen. Eine Beschwerde beim Aufseher scheint sinnlos. Der will Ruhe in der Gruppe und dass alle den Kurs schaffen, denn wie viele Stiftungen dieser Art ist auch der Bildungsmarkt auf einen gegenüber Geldgebern nachweisbaren Erfolg angewiesen. Als eine Morddrohung kommt, geht Tom.

Thomas Georgie versucht, den Jugendlichen auf der Suche nach einem Job weiterhin zu motivieren, und hilft bei Bewerbungen. Tom packt zurzeit Regale bei Kaufland und lebt bei Mama. „Ick möchte jetzt doch mal den ganzen Tag arbeiten. Im Moment geht es mir ja gut, aber …“ Er spricht nicht weiter. Na ja, es gab schon schlechtere Zeiten in seinem kurzen Leben. Eine berufsvorbereitende Stelle im Bereich Medientechnik wird angeboten, davon hat er immer geträumt. Und irgendwann einmal, da wünscht Tom sich einen Lamborghini und – ein eigenes Haus. Das wäre cool!

*Name geändert