von Elvira Berndt und Herbert Scherer
Wenzel Holek (1864-1935), wohl einer der ersten professionellen Jugendarbeiter in Deutschland, sicher aber der erste Praktiker einer „aufsuchenden“ Jugendarbeit, ist eine bemerkenswerte und doch wenig bekannte Ausnahmegestalt.
Holek wird 1864 in Böhmen als Kind einer armen Tagelöhnerfamilie geboren, Nationalität tschechisch, Staatsangehörigkeit österreichisch. Schon früh muss Holek, dem es nicht vergönnt ist, mehr als drei Jahre die Volksschule zu besuchen, zum Lebensunterhalt der Familie beitragen: Kinderarbeit, Betteln, Straßenmusik. Holek wird dann selbst „Handarbeiter“, d.h. ungelernter Arbeiter. Das bedeutet körperlich schwerste Arbeit bei größter sozialer Unsicherheit. Sein beruflicher Lebensweg führt Holek zum Eisenbahnbau, in Ziegeleien, Glasfabriken und in den Tagebau. Er gründet eine Familie und wird im Laufe der Zeit Vater von sechs Kindern. Arbeitslosigkeit und drängende Not zwingen ihn als 40jährigen im Jahre 1904 dazu, seine Heimat Böhmen zu verlassen und im sächsischen Dresden nach Arbeit zu suchen. Auch hier bleibt es bei niedrig bezahlter, häufig wechselnder Tätigkeit in unterschiedlichen Industriezweigen. Schon in Böhmen ist Holek Mitglied der Sozialdemokratischen Partei geworden, er will sich nicht mit den bestehenden Verhältnissen abfinden. Er beginnt, sich mit den theoretischen Positionen der Sozialdemokratie zu beschäftigen, wird Versammlungsredner und schreibt Artikel für sozialdemokratische Zeitungen. Sein Leseeifer führt dazu, dass er eine der Arbeiterbiographien in die Hände bekommt, die der ehemalige Pfarrer Paul Göhre im Eugen-Diederichs-Verlag in Jena herausgegeben hat: Carl Fischers „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters“. Das motiviert ihn dazu, einem befreundeten Schweizer Intellektuellen (Theodor Greyerz), der zu dieser Zeit als Hauslehrer in Dresden tätig ist, den Plan zu unterbreiten, auch eine solche Autobiographie zu schreiben. Greyerz ermuntert ihn, das wirklich zu tun, und hilft ihm bei der Rechtschreibung. Holek schafft es tatsächlich, neben seiner schweren körperlichen Arbeit das Manuskript zu vollenden und so erscheint im Mai 1909, ebenfalls herausgegeben von Paul Göhre und ebenfalls bei Eugen Diederichs sein Buch „Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters“. Das Buch vermittelt mit seiner Unmittelbarkeit und Authentizität einen unverstellten Einblick in das Leben und Denken der unteren Schichten der Arbeiterklasse. Es stößt auf ein großes Interesse vor allem bei reformwilligen Kreisen des Bürgertums; Holeks Arbeitskollegen sind eher befremdet, die organisierte Sozialdemokratie ablehnend (Franz Mehring schreibt in der „Neuen Zeit“ den einzigen „Verriss“ des Buches, das in den Rezensionen der bürgerlichen Presse äußerst positiv bewertet wird). Auch nach dem Erscheinen der Autobiographie bleibt Holek der Hilfsarbeiter, als der er sein Buch geschrieben hat, aber es gibt jetzt eine Reihe von philanthropisch gesinnten Bürgerlichen, die immer wieder versuchen, wenigstens ihm und seiner Frau zu helfen, ihre individuellen sozialen Probleme besser zu bewältigen, sei es, dass sie ihnen finanziell unter die Arme greifen, sei es, dass sie ihre Beziehungen spielen lassen, um ihm etwas besser bezahlte Arbeitsmöglichkeiten zu vermitteln. Und ab und an wird er zu Vortragsveranstaltungen eingeladen, um als Kronzeuge über „Die geistige Lage der Arbeiter“ zu berichten. (vgl. Holek 1921: 81ff.)
Eine dieser Vortragsveranstaltungen ist es schließlich, die Wenzel Holek im Jahre 1912 (48jährig) den Weg in eine ganz neue berufliche Richtung eröffnet. Ein Leipziger Pfarrer lädt Holek zu einem Vortrag ein und ist von Holeks Äußerungen so angetan, dass er ihm die gerade vakante Leitungsstelle des Leipziger „Volksheimes“ anbietet. Das Volksheim, 1909 gegründet, ist einer der Versuche, auch in Deutschland nach dem Vorbild der britischen Settlements in den Arbeiterbezirken Begegnungshäuser zu errichten, in denen wohlmeinende Angehörige aus bürgerlichen Kreisen mit Angehörigen der arbeitenden Klassen zusammentreffen sollen (Zweck des Vereins ist es, „geistigen Verkehr zwischen allen Bevölkerungsschichten (…) herzustellen“). (Holek 1921: 141)
Das Volksheim ist in einer desolaten Lage, als Holek die Leitung übernimmt. Die aktive Mitgliedschaft schrumpft, die Einrichtung wird von den Arbeitern, deren Organisationsgrad in Leipzig besonders hoch ist, boykottiert. Holek beschreibt die Situation drastisch: „Das Volksheim galt als eine Verdummungsanstalt.“(Holek 1921: 144) Die sozial-demokratische Presse weigert sich, Veranstaltungen des Volksheims anzukündigen – Begründung eines Redakteurs: „das Volksheim sei ein von England und Hamburg herübergebrachter Schwindel; wer sich damit abgebe, sei kein anständiger Mensch.“ (Holek 1921: 144) Keine gute Grundlage für Menschen aus dem Bürgertum, die den Dialog mit den Arbeitern suchen, wenn sie diese im Volksheim nicht antreffen können. Holek beschließt, alle Energie auf die Gewinnung der Jugend zu richten. Das erweist sich als erfolgreich. Holek erreicht innerhalb eines halben Jahres eine Verzehnfachung der jugendlichen Mitglieder des Volksheims, die jetzt als Publikum dessen Bildungsveranstaltungen dominieren.
Es spricht sich herum, dass es Holek gelingt, an die Jugendlichen heranzukommen und sie für Vortragsthemen zu interessieren, bei denen das wahrhaftig nicht selbstverständlich ist, z.B. „Wilhelm Busch als Philosoph“, „Deutsche Kunst im achtzehnten Jahrhundert“, „Grundlagen der Ethik“, „Bau des menschlichen Auges“ (Holek 1921: 145) Die Kunde von Holeks Geschick in der Jugendarbeit erreicht so auch den Amtshauptmann von Leipzig, Herrn von Nostiz-Wallwitz, der in einem der Stadtteile, für die er zuständig ist, nach englischem Vorbild ein Settlement errichten will, das einen besonderen Schwerpunkt in der Jugendpflege haben soll. Er wirbt Holek aus dem Volksheim ab und erteilt ihm den Auftrag, im Leipziger Vorort Thekla eine entsprechende Einrichtung aufzubauen. Wir schreiben inzwischen das Jahr 1914 und der Ausbruch des Krieges macht einen dicken Strich durch diese hochfliegenden Pläne. Holek, der seinen Arbeitsplatz im Leipziger Volksheim aufgegeben hat, hängt in der Luft. Von Nostiz-Wallwitz bemüht sich darum, Holek ersatzweise einen anderen Job in der Jugendarbeit zu verschaffen. Das gelingt schließlich in einem anderen Leipziger Vorort (Großzschocher) – und so kann Holek, nun als staatlicher Angestellter, weitere Erfahrungen in der Jugendarbeit machen. Relatives Desinteresse und weitgehende Unerfahrenheit seiner Auftraggeber führen dazu, dass man Holek freie Hand in seiner Arbeit lässt. So kann er konzeptionell an die Jugendarbeit im Leipziger Volksheim anknüpfen und die dort begonnenen Ansätze weiterentwickeln, obwohl die institutionellen Voraussetzungen und die Anforderungen der vorgesetzten Stellen sich erheblich von denen im Volksheim unterscheiden.
Insbesondere gibt es nicht mehr den ideellen Rahmen, der für die unterschiedlichen Arbeitsbereiche des Volksheims eine einigermaßen verbindliche Grundlage abgegeben hatte – und Jugendarbeit als eigenständiges Handlungsfeld mit gesellschaftlich definierten Anforderungen gibt es zu dieser Zeit noch nicht. Es bilden sich zwar schon erste Ausschüsse für Jugendpflege und es werden die ersten „Jugendvereine“ gegründet, die man als Vorläufer von freien Trägern der Jugendarbeit betrachten kann, aber diese werden noch von Lehrern und Geistlichen dominiert, die über Schule und Konfirmandenunterricht einen institutionellen Bezug zu Kindern und Jugendlichen haben.
Holek, der hundertprozentige Autodidakt in diesem Feld, macht seine Jugendarbeit allerdings nicht einfach „aus dem Bauch heraus“. Er bezieht sich ausdrücklich auf eine theoretische Grundlage, nämlich das Buch „Jugendlehre“ von Friedrich-Wilhelm Foerster.
Das über 700 Seiten starke Buch des Züricher Philosophie-Dozenten ist zu dieser Zeit und in den kommenden Jahren das populärste Handbuch für die pädagogische Praxis. Die 1904 erschienene erste Auflage mit 10.000 Exemplaren ist bald vergriffen, in einer zweiten Auflage 1906 kommen weitere 5.000 Exemplare dazu. Das Buch von Foerster markiert auf seine Weise die tiefgreifenden Veränderungen im Erziehungswesen. Das Buch wendet sich erklärtermaßen an „Lehrer, Eltern und Geistliche“, die in den Feldern „Schule, Haus und Kirche“, aber auch in „Korrektionsanstalten, Gefängnissen, Internaten, Kinderhorten etc.“ Verantwortung für die „Jugendseelsorge“ trügen. (Foerster 1906: VII) Auch für Foerster gibt es also weder Jugendarbeiter als mögliches Lesepublikum noch einen Bereich Jugendarbeit, Jugendpflege oder Jugendförderung als deren Betätigungsfeld. Foerster propagiert eine Erziehungsarbeit, die in ihren Formen der traditionellen moralischen Bildung in unterrichtsähnlicher Form ähnelt (der Lehrende versucht, einer größeren Gruppe von Kindern oder Jugendlichen im Gespräch Verhaltensregeln und Wertvorstellungen beizubringen), die aber in ihren wesentlichen Inhalten der Tatsache Rechnung trägt, dass die alten moralischen und religiösen Wertvorstellungen keine universelle Verbindlichkeit mehr für die Zielgruppen haben. Wenn man dann noch bedenkt, dass die körperliche Züchtigung als handgreifliches Erziehungsinstrument gerade in Verruf gerät, kann man sich vorstellen, was für ein kompliziertes Vorhaben es ist, ohne auf verbindliche z.B. religiöse Maximen zurückgreifen zu können, ein kohärentes und plausibles System von Verhaltensweisen zu vermitteln, das junge Menschen durch Verinnerlichung bei ihrer Lebensgestaltung leiten kann.
„Je mehr die Bewegung gegen die körperliche Züchtigung der Kinder zunimmt und dadurch den Erzieher von äußerlichen Disziplinarmitteln auf eine mehr innerliche Beeinflussung verweist, umso dringlicher wird es auch, diese innerliche Beeinflussung zu einem besonderen Gegenstand der pädagogischen Vorbereitung und Schulung zu erheben. Wenn der Verfasser in den von ihm gebrauchten Beispielen ausschließlich soziale und natürliche Begründungen des Sittlichen verwertet und den Appell an religiöse Vorstellungen und Gefühle vermeidet, so entspricht das der besonderen Aufgabe seines Buches.“ (Foerster 1906: VIII)
Foersters Buch enthält neben einigen theoretischen Überlegungen insbesondere kleine Geschichten aus dem Leben, die wie traditionell die biblischen Geschichten als Material für moralische Schlussfolgerungen benutzt werden. Holek benutzt das Buch als Anregung, um in ähnlicher Weise mit den Jugendlichen, die ihm anvertraut werden, Alltagserfahrungen so zu besprechen, dass sich aus ihnen allmählich eine „ethische Gesinnung“ entwickelt, die als Überzeugung verinnerlicht wird. Holek nennt das „Gesinnungspflege“ und sieht in diesem Ansatz die Grundlage dafür, dass in seinen Jugendgruppen positive Veränderungsprozesse stattfinden. Zur Methode sagt er: „Ich war der Ansicht, dass eine gute Gesinnung die Voraussetzung der guten Zucht ist. (…) Natürlich lasen wir aus der Jugendlehre oder Lebenskunde nicht vor. Wir erzählten das, was wir auf der Straße oder sonst wo gesehen hatten, in Verbindung mit einem dazu passenden Abschnitt in der Jugendlehre.“(Holek 1921: 157) Neben den Klubabenden, die solchermaßen der moralischen Aufrüstung dienen, veranstaltet Holek mit den Jugendlichen Bastelstunden, Ausflüge, Wanderungen, Geländespiele und Theatervorstellungen. Großen Wert legt er dann auf die Bildung von Verantwortungsstrukturen. Die Jugendlichen werden in Klubs mit jeweils 15 bis 20 Mitgliedern organisiert, in denen es jeweils die gewählten Ämter eines Vorsitzenden, eines Schriftführers, eines Kassen- und eines Spielwarts gibt. Die Klubs werden zu einem Verein zusammengefasst, in dem es einen gewählten Präsidenten mit besonderen Rechten und Pflichten gibt. „Wir waren also ein kleiner Staat, der der Boden sein sollte für praktische staatsbürgerliche Erziehung. Die Jugend sollte nicht bloß staatsbürgerliche Belehrung erhalten, sondern sich zugleich praktisch in ihrem Sinne betätigen.“(Holek 1921: 162) Holek sieht sich mit seinen strikten Vorgaben als erwachsener Erzieher und setzt sich damit in bewussten Gegensatz zu den Ansätzen der Jugendbewegung in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, die davon ausgehen, dass die Jugendlichen ihren eigenen Ideen folgen sollen. Holek polemisiert in diesem Sinne gegen den „anarcho-individualistischen Geist der ‚Freideutschen Jugend’ wie auch gegen den anarcho-sozialistischen Geist der Arbeiterjugend“ (Holek 1921: 163) „Ich bin immer schon so unmodern und altväterlich gewesen, dass ich den Jungen bloß eine Mitverwaltung gab, damit sie sich erste selbst verwalten lernten. Mein Verfahren ist wie das eines jeden vernünftigen Bauers; der lehrt seinen Sohn erst richtig wirtschaften; dann übergibt er ihm das Gut.“(Holek 1921: 163)
Holek hat zwar weitgehend freie Hand, die Jugendarbeit nach seinen Vorstellungen zu gestalten, aber er eckt mit seiner selbstbewussten Art immer wieder insbesondere bei den Lehrern an, die sehr konservativ sind und z.B. dafür sorgen, dass die Mädchenarbeit, die Holek aufgebaut hat, wieder eingestellt werden muss. Eine sichere Stütze ist und bleibt ihm nur der Amtshauptmann von Nostiz-Wallwitz, der zu ihm hält, obwohl er um seine nach wie vor sozialdemokratischen politischen Überzeugungen weiß. Als von Nostiz-Wallwitz von der sächsischen Regierung auf einen Gesandtschaftsposten nach Wien versetzt wird, fürchtet Holek deswegen wohl zu Recht, dass man ihm künftig noch mehr Steine in den Weg legen könnte. Deshalb kommt es ihm sehr entgegen, dass eine seiner (studentischen) Mitarbeiterinnen bei der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost vorfühlt, die gerade auf der Suche nach einem verantwortlichen Mitarbeiter für ihre Jugendarbeit ist. Deren Leiter, Friedrich Siegmund-Schultze, bietet Holek im Zuge der Sondierungen an, nach Berlin zu kommen und diese Aufgabe zu übernehmen. Holek entscheidet sich für die Annahme dieses Angebots und zieht im Mai 1916 nach Berlin um.
Auch die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG) orientiert sich am Vorbild der englischen und amerikanischen Settlements. Sie folgt deren Vorbild allerdings sehr viel konsequenter als das Volksheim, das Holek in Leipzig kennengelernt hat, weil sie von ihren Aktivisten (vorwiegend Akademikern aus bürgerlichen Kreisen) verlangt, dass sie ihren Wohnsitz im Arbeiterviertel nehmen („setteln“) und auf diese Weise eine Verpflichtung eingehen, die ihr ganzes Leben betrifft und nicht nur eine freiwillige Freizeitaktivität ist.
Die SAG macht seit dem Beginn ihrer Aktivitäten im Berliner Bezirk Friedrichshain die Erfahrung, dass es sehr schwierig ist, das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen. Man zieht daraus einen ähnlichen Schluss wie Wenzel Holek in Leipzig, nämlich ein besonderes Gewicht auf die Kinder- und Jugendarbeit zu legen, in der die ersten Kontakte viel leichter zu knüpfen sind.
Nach dem Vorbild des Londoner Settlements Toynbee Hall versucht man, nach der ersten Kontaktaufnahme auf der Straße Formen der Gruppenarbeit zu entwickeln. Die Kinder und Jugendlichen werden zu „Klubs“ zusammengefasst, die aus jeweils 10-15 Mitgliedern bestehen und von den Studenten ehrenamtlich betreut werden, die zur Sozialen Arbeitsgemeinschaft gehören und in der Regel Bewohner der Wohnungen sind, die diese in Friedrichshain angemietet hat.
Diese Form der Jugendarbeit kann während des I. Weltkrieges nicht fortgesetzt werden, weil die jungen Akademiker eingezogen und an die Front geschickt werden. Weil die Kinder- und Jugendarbeit für die Soziale Arbeitsgemeinschaft aber eine so wichtige strategische Bedeutung bekommen hat, entschließt sich Friedrich Siegmund-Schultze, vom ursprünglichen Konzept abzuweichen und als Ersatz für die fehlenden ehrenamtlichen Kräfte einen hauptamtlichen Jugendarbeiter zu suchen. Wenzel Holeks Alter, er ist inzwischen 52 Jahre alt, ist in dieser Situation kein Nachteil, im Gegenteil: er braucht nicht in den Krieg zu ziehen. Mit seiner Volksheim-Erfahrung ist er zudem jemand, dem die Settlement-Idee vertraut ist, auch wenn er gewissermaßen von der „anderen Seite“ kommt; er ist kein Angehöriger der „höheren Klassen“, der sich auf die Arbeiter zu bewegt, sondern umgekehrt: ein Arbeiter, der sich darum bemüht, die Klassengegensätze von unten zu überbrücken.
Holek knüpft in der von ihm verantworteten Jugendarbeit in der SAG theoretisch und praktisch an die Erfahrungen an, die er in Leipzig gemacht hat. Das gilt für die Organisationsformen (Klubs) und für die Inhalte der praktischen Arbeit (strukturierte Gruppenabende mit Gesprächen, die sich an Foersters Jugendlehre orientieren, Basteln, Ausflüge, Einstudieren von Theaterstücken, mehrtägige Gruppenreisen aufs Land etc.).
Holek bleibt bis zu seinem Tod 1935 trotz einiger Unterbrechungen, die auf Auseinandersetzungen mit anderen Mitarbeiter/inne/n der SAG zurückgehen, der Hauptverantwortliche für die offene Jugendarbeit der SAG, deren Aktivitäten sich bald auch auf andere Bereiche der Jugendhilfe ausweiten (Jugendgerichtshilfe, stationäre Arbeit mit geistig behinderten und psychisch kranken Jugendlichen, Beschulung von Lernbehinderten). Neben dieser Aufgabe hat er in der SAG die Funktion des lebendigen Beweises, dass es zu einer produktiven Zusammenarbeit zwischen Angehörigen der Arbeiterschaft und der bürgerlichen Klasse kommen kann. In diesem Sinne tritt er für die SAG in Vorträgen und Aufsätzen auf und ist z.B. 1932 auf einer Internationalen Tagung der Settlementbewegung, die in Berlin stattfindet, der zweite Vertreter der SAG neben Friedrich Siegmund-Schultze.Dieter Oelschlägel, Praktiker, Theoretiker und Chronist der Gemeinwesenarbeit, hat in einem Aufsatz 1991 Art und Vorgehensweise der Jugendarbeit der SAG als eine frühe Form von STREETWORK interpretiert. (vgl. Oelschlägel 1991: 14) Grund genug, genauer hinzusehen und die Ansätze von Wenzel Holek mit den Anforderungen zu vergleichen, die wir heute an diese Art von Jugendarbeit stellen.Kontaktaufnahme im öffentlichen Raum
Das bestimmende Element der Jugendarbeit in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ost waren die Knabenklubs, die im Wohnumfeld der Jugendlichen gegründet wurden und das Ziel hatten, eine sittlich-moralische Erziehung zu leisten, die zwar an den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen anknüpft, aber gleichzeitig eine Alternative bietet zu den Gefahren der Moderne: „statt Bande Klub, statt Schundhefte Abenteuerliteratur, statt Rummelplatz Volksfest, statt Tanzboden Volkstanzkreis, statt Kneipe Kaffeeklappe.“ (Lindner 1997: 11) Heute formulieren wir in der Straßensozialarbeit eindringlich, dass es nicht darum gehen kann, die Jugendlichen von der Straße zu holen, um sie andernorts aufzubewahren, wir begreifen den öffentlichen Raum als legitimen Aufenthaltsort (auch) für Jugendliche und erobern ihn dort, wo er kommerzialisiert und privatisiert wird, mit den Jugendlichen gemeinsam Stück für Stück zurück. Betrachtet man allerdings die heute geführten Debatten über Jugendgewalt und Jugendkriminalität, wird schnell deutlich, dass wir manchmal nicht allzu weit entfernt sind von den moralischen Kategorisierungen der damaligen Zeit: „Die `Straße` meint mehr als die Topographie eines Raumes. Die `Straße` ist ein `Speicher verbotenen Wissens`, eine `Schule der Unmoral`, eine `Lehranstalt der Verwilderung`. Sie suggeriert Chaos, wo Ordnung herrschen soll, und steht als `Chiffre für alles gesellschaftlich Un-Geordnete, Un-Kontrollierte, Nicht-Integrierte`. Ihr Produkt ist der `Straßenjunge`(…).“ (Sabelus 1997: 97)
Die SAG-Mitarbeiter waren sich offensichtlich dessen bewusst, dass sie die Arbeiterjugendlichen zunächst dort erreichen müssen, wo diese sich in ihrem Alltag aufhalten – auf dem Straßenmittelstreifen der Friedensstraße oder der Treppe zur Gastwirtschaft. Sie entwickelten erste Ansätze aufsuchender Arbeit und ihre Schilderungen dieser Versuche machen deutlich, dass sich die Jugendarbeiter ungeachtet ihrer moralischen Bewertung dieser Aufenthaltsorte der Jugendlichen doch dessen bewusst waren, dass sie an diesen Orten als Gäste auftreten, die sich darum bemühen müssen, wiederkommen zu dürfen. So wird das Niederlassen des Jugendarbeiters auf der Parkbank nicht dem Zufall überlassen, vielmehr wird die Kontaktaufnahme zu den Jugendlichen und die Möglichkeit, Tage später an diesen Erstkontakt anknüpfen zu können, genau geplant: „Welche Geschichte erzählt wurde, sollte für den Mitarbeiter keine Augenblicksentscheidung sein. Vor dem Zusammentreffen mit den Straßenkindern hatte er sich zu überlegen, was die Jungen an einer Geschichte interessant finden könnten. Es musste ihnen `Spaß machen` zuzuhören. Die Geschichte sollte zudem recht lang sein, so dass es an einer bestimmten womöglich besonders aufregenden Stelle heißen konnte: Fortsetzung folgt. So wurde sich dann in der nächsten Zeit an selber Stelle getroffen.“ (Hegner 1997: 117) Die Jugendarbeiter setzen darauf, dass die Jungen anfangen, über sich zu erzählen und die Regelmäßigkeit der Treffen dazu führt, dass sie einen Klub, einen Verein mit festen Mitgliedschaften wie bei den Erwachsenen, gründen wollen. Das Ziel der sittlichen Erziehung in den Klubs geht allerdings an den tatsächlichen Bedürfnissen vieler Jugendlicher vorbei, viele Jugendliche gehen eher zu den Banden als in die Klubs, und so macht sich auch in der SAG Resignation breit: Die Schuld für das Scheitern des Erziehungsgedankens wird in der sittlichen Unreife der zu Erziehenden gesucht. Auseinandersetzungen über die Offenheit der Klubs und die Ausgrenzung von Jugendlichen, weil sie eine Gefahr für Andere darstellen, führen u.a. zu der Idee, für die `schwierigen Elemente` gesonderte Klubs einzurichten. Die hoffnungsvollen Ansätze aufsuchender Arbeit bleiben mit ihrer Fremdbestimmung des Ziels eines entstehenden Kontaktes inkonsequent – die Jugendarbeiter wollen sich letztlich nicht in die Lebenswelt der Jugendlichen hineinbewegen, sondern diese aus ihrer Lebenswelt herausholen. Sie wollten eine sittliche Alternative bieten für das, was sie als unsittlich definiert hatten: „Daß sich gerade in dem Surrogatcharakter des Angebots die Crux des ganzen Unternehmens offenbarte, zeigt sich daran, dass es zum entscheidenden Filter hinsichtlich des Adressatenkreises wurde. Erreicht wurden die, die erreicht werden wollten, bzw. jene, denen die Teilnahme durch die Eltern nahegelegt wurde.(…)Jene aber, die über das Settlement eigentlich erreicht werden sollten, entzogen sich ihm. Der Klub war in erster Linie Hort des ehrbaren und aufstrebenden, nicht aber des oppositionellen Proletariats.“ (Lindner 1997: 11)
Freiwilligkeit, Parteilichkeit und Vertrauen
Holek setzt in seiner Arbeit darauf, das Vertrauen der Jungen in den Arbeitersiedlungen zu erringen. Sein wichtigstes Arbeitsinstrument ist dabei seine Person – mit all seiner Lebenserfahrung, seiner selbst erfahrenen Kenntnis des Lebens als Arbeiterkind und seiner Authentizität im Umgang mit den Jugendlichen. Er versucht, viel über die Jungen, ihren Umgang und ihr Verhalten zu Hause und auf der Straße zu erfahren und er konfrontiert sie mit diesem Wissen: „Eine solche offene Auseinandersetzung kann aber bei den verschiedenen Menschen auch verschiedene Ergebnisse bringen. Mit pedantisch moralischen Vorhaltungen ist da nichts auszurichten. Solche Naturen sind nur dann erfolgversprechend zu packen, wenn der Eindruck gewaltig genug ist, dass man sie trotz ihrer persönlichen Mängel doch lieb hat, dass man das Beste für sie will, es mit ihnen gut meint, kurz, dass man trotz aller Offenheit ein warmes Herz für sie hat. So nur gelingt es, auch die festesten Naturen zur Kapitulation zu bringen und ihr Vertrauen zu gewinnen.“ (Holek 1998: 29) Auch heute setzt aufsuchende Arbeit auf den Aufbau eines stabilen Vertrauensverhältnisses zwischen Jugendlichen und Streetworkern, das in der Arbeit das wichtigste Kapital und die beste Grundlage für mögliche Veränderungsprozesse ist. Wenn Streetworker formulieren, dass immer die Tat zu verurteilen ist und nicht der Mensch, dann drückt sich darin ein Maß an Achtung und Akzeptanz der Persönlichkeit des Anderen aus, die auch in pädagogischen Beziehungen heute keine Selbstverständlichkeit ist.
Wenzel Holek und die anderen Mitarbeiter der SAG waren neben ihrer Arbeit in den Klubs und auf der Straße mit den vom Jugendgericht verfügten Schutzaufsichten über jugendliche Straftäter befasst. Zu diesen verordneten erzieherischen Maßnahmen nimmt Holek eine sehr kritische Haltung ein: „Ich habe von jeher, vom pädagogischen wie auch vom soziologisch-familiären Standpunkte aus betrachtet, die Schutzaufsichten nicht für so erfolgreich angesehen, wie es oft geschieht. Was kann man pädagogisch leisten – wenn man den Schützling in 14 Tagen einmal besucht, wenn man nachsieht, wo und wie er schläft, wie er arbeitet und wie er sich beträgt, was für eine Gesellschaft er hat, ob er ins Kino geht, Schundliteratur liest usw.; wenn schließlich die soziologische Lage und die familiären Verhältnisse kein gutes Beispiel von sich geben; und vollends in der Familie eine pädagogische Ohnmacht herrscht! Hat da diese Arbeit etwa mehr als einen statistischen Wert?“ (Holek 1998: 69)
Das Prinzip der Lebensweltorientierung
Die Idee der SAG, in die Arbeiterbezirke des wilden Ostens zu ziehen und dort mit Angehörigen der gebildeten Stände, v.a. Studenten, soziale Aktivitäten zu entwickeln, fußte auch damals schon auf der Idee der Lebensweltorientierung. Doch der gute Wille allein lässt niemanden in einer fremden Welt bestehen. Selbst Holek, groß geworden in ganz ähnlichen Verhältnissen, scheitert in Berlin zunächst mit seinen aus der 7000-Seelen-Gemeinde Großzschocher bei Leipzig mitgebrachten Methoden und stellt sich die Frage: „In Berlin schien damit nichts zu machen zu sein. Sind etwa die Berliner 12jährigen Jungen lebenserfahrener? Wissen sie von den ernsten Seiten des Lebens mehr als jene Kinder aus Grosszschocher?“ (Holek 1998: 35) Wenzel Holek war auch deshalb eine Ausnahmegestalt, weil er der einzige unter den Mitarbeitern der SAG war, der die Lebenswelt seiner Jungen auch aus eigenem Erleben kannte. Viele der freiwilligen Helfer, die mit gutem Herzen und hohen Ansprüchen an freie Erziehung und Selbstverwaltung zu ihm kamen, hat er scheitern sehen – und so mancher hat ihn nach seiner Karriere als Beamter nicht mehr gekannt. Allerdings macht auch Holek keinen Hehl daraus, dass ihm manches Scheitern ganz lieb ist: „Ein anderer Student ist den Arbeitern so wohlwollend geworden, dass er einen 29jährigen Schlosser überredete, mit auf seiner Bude zu wohnen. Nach vier Wochen zog der Schlosser wieder zu seinen Eltern. Als ich ihn nach dem Grund fragte, weshalb er von dem Studenten fortging, sagte er mir, dass sie nicht zusammenpassen. Die Stube sei zu fein eingerichtet, er getraue sich nicht recht, wenn er von der Arbeit käme, sich darin zu waschen. Der Student sei ein verhätschelter Mensch, gehe im Schlafanzug zu Bett und liesse sich von der Wirtin hinten und vorne bedienen. Sonst wolle der Student nirgends anfassen. In der Kritik aber war er masslos. Als er dann von uns fort wollte und zu mir kam, um sich zu verabschieden, da sprachen wir über die Jugendbewegung und über die Arbeit in der S.A.G. bis wir auch auf den Fall mit dem Schlosser kamen. Er bedauerte das Misslingen seines guten Willens. Ich klärte ihn auf, warum es nicht ging. Dann aber offenbarte ich ihm, dass ich es nicht bedaure. Denn er wäre, wenn ihm das Experiment gelungen wäre, in Deutschland herumgereist und hätte gepredigt: `Seht, so wird es gemacht!`“ (Holek 1998: 117)
Holek erlebt die naiven Gutmenschen, die Karrieretypen auf der Suche nach dem Sprungbrett, die Abenteuerlustigen auf der Suche nach dem leichten Schauder des Verruchten – und manchmal fühlt man sich beim Lesen erinnert an die Bewerbungsgespräche der frühen Neunziger, so kurz nach der Wende, als die Einen nach Kreuzberg und die Anderen am besten gleich nach Marzahn wollten und, nach ihrer Motivation befragt, das Funkeln der Abenteuerlust in ihren Augen nicht ganz verbergen konnten. Wir haben damals gerade für die Arbeit auf der Straße eher Quereinsteiger ohne formale Qualifikation eingestellt – Menschen mit eigener Migrationserfahrung und Menschen mit einer DDR-Biographie, wohl aus ähnlichen Motiven wie Holek, der über ein Scheitern mancher Helfer aus naheliegenden Gründen froh war: Weil kurzatmiger Eifer und gut gemeinter Enthusiasmus denen, die mit der Erwartung von Selbstverwirklichung und Weltverbesserung in eine fremde Lebenswelt eintauchen, nicht zu nachhaltigen Erfolgserlebnissen verhilft, wenden sich so manche, die die erhoffte Nähe zu den Bewohnern nicht erreichen oder die notwendige Distanz nicht halten können, persönlich enttäuscht recht schnell wieder ab.
Nähe und Distanz
Streetwork heute ist eine beständige Gratwanderung von Nähe und Distanz. Streetworker sind auf der Straße und in den Jugendszenen Gäste, die als Personen angenommen werden müssen und keine Sanktions- oder Ausgrenzungsmöglichkeiten haben. Sie sind einerseits erwachsene, erfahrene Personen, die sich von den Jugendlichen unterscheiden, müssen gleichzeitig aber auch als Partner von den Jugendlichen anerkannt werden. Sie werden zum „Teil der Gruppe“ ohne „einer von ihnen“ zu sein. Ihre Interventionsberechtigung in Konflikten erhalten sie von den Jugendlichen und müssen diese auch als Person in Anspruch nehmen, ohne eine Institution mit ihrem anonymisierten Regelwerk „vorschieben“ zu können. Streetworker entwickeln in ihrer Arbeit eine hohe Sensibilität beim Aufbau vertrauensvoller Nähe bei gleichzeitiger Wahrung professioneller Distanz und es gilt die ungeschriebene Regel: „Wenn ein Streetworker von einem Jugendlichen angegriffen wird, hat er einen Fehler gemacht“. Kolleg/inn/en in Einrichtungen, vor dem Hintergrund einer anderen institutionellen Macht, die sie ausüben, die auf das Fehlverhalten von Jugendlichen mit Hausverboten und ggf. polizeilicher Anzeige reagieren, haben meist wenig Verständnis für die Position der in solchen Konflikten oft herbeigerufenen Streetworker, die Ausgangspunkt und Entwicklung des Konfliktes hinterfragen und dabei nicht nur das Verhalten der Jugendlichen im Blick haben, sondern auch die Frage stellen, wie angemessen der Kollege reagiert hat. Nicht selten stellt sich dabei heraus, dass der Sozialarbeiter (in diesem Fall tatsächlich fast immer männlich) in der Annahme einer kumpelhaften Nähe zu den Jugendlichen den schmalen Grat zwischen Nähe und Distanz verlassen hat und so zum Konfliktbeteiligten geworden ist. Während im Ergebnis der grenzüberschreitend agierende Jugendliche alle Konsequenzen zu tragen hat, wird das Agieren der Sozialarbeiter innerhalb ihrer Institutionen kaum hinterfragt.
Wenzel Holek ist sich dieser Problematik bewusst, wenn er ein konkretes Beispiel solch einer Grenzüberschreitung beschreibt:: „Ein Schweizer Student kam mit einem Knaben nach. Er wollte auch etwas von diesem Leben und Treiben kennenlernen. Als die Jungen sich eines nachmittags die Hände wuschen, fuhr er mit seinen Händen in eine von den Waschschüsseln und spritzte die Jungen ins Gesicht. Sie taten natürlicherweise dasselbe. Das vertrug seine akademische Ehre nicht und er gab einem eine Ohrfeige. Die anderen nahmen sogleich für ihren Kameraden Partei, schimpften und meinte, er habe gar nicht zu schlagen usw. Ich sah und hörte von der Ferne zu, ohne mich dreinzumischen. Erst als die Jungen fort waren, nahm ich mir den künftigen Pfarrer vor und machte ihm klar, dass, wenn er eine Distanz wahren will, so etwas nicht tun darf. Die hätten Recht!“ (Holek 1998: 152f.)
Holek reagiert professionell, indem er die Auseinandersetzung mit dem Studenten im Anschluss an seine Beobachtung in Abwesenheit der Jungen führt. Wie er reagiert hätte, wäre er vor versammelter Mannschaft nach seiner Meinung gefragt worden, bleibt Spekulation. Er verbrüdert sich nicht mit den Jungen, macht aber gleichzeitig sehr deutlich, dass die Frage danach, wer Recht hat, nicht eine Frage der Hierarchie und der größeren Macht ist, sondern des Verhaltens in einer sehr konkreten Situation, in der das Fehlverhalten nicht automatisch bei den Jugendlichen liegen muss.
Anonymität und Vertraulichkeit
Wenzel Holek war nicht davor gefeit, dass junge Menschen in seinen Klubs oder in der Kaffeeklappe straffällig wurden. Immer wieder kam es zu Zwischenfällen, bei denen auch er selbst und seine Familie Opfer von Diebstählen und Einbrüchen wurden. Bemerkenswert ist die ausgesprochen nicht-moralisierende Art, in der er von diesen Vorfällen berichtet. Er stellt nicht persönliche Enttäuschung und Betroffenheit in den Mittelpunkt seiner Schilderung und macht sehr lakonisch klar, was seine Aufgabe ist und was nicht: „ Als seine Flucht in unserem Umkreis bekannt wurde, meldete sich ein Beschäftigter nach dem anderen, die von ihm um 10 oder 15 Mark angepumpt wurden. Kurz, die Gesamtsumme betrug 85 Mark. Eine Anzeige bei der Polizei zu machen, fiel mir nicht ein. Habe ich doch schon in einigen Fällen vorher erfahren, dass die Polizei wohl eine Anzeige gefälligst aufnimmt, sich aber nicht weiter um solche Kleinigkeiten kümmert, und eine Vergeltung nach dem Buchstaben des Strafgesetzes war auch nicht der Zweck meiner Arbeit.“ (Holek 1998: 194)
Im Rahmen seiner durch die Jugendgerichtshilfe aufgetragenen Schutzaufsichten allerdings muss Holek auch bei Schulen und Pfarrern Erkundigungen über die Jungen anstellen. Er beschreibt, dass die Lehrer meist außerhalb der Stadt wohnen und wenig Kenntnis davon haben, wie ihre Schüler leben: „Für die Ermittlungsbericht sind die Erkundigungen in der Schule meist unbefriedigend. Die Lehrer wissen wohl, ob der Junge den von der Schule gestellten Anforderungen genügte oder nicht. Sie kennen aber die Familie und die Umgebung der Jungen nicht, können nicht sagen warum der oder jener so oder so geraten ist.“ (Holek 1998: 73) Auch wenn er keine Scheu hat, zu den Eltern und Großeltern seiner Zöglinge Kontakt aufzunehmen, distanziert er sich doch davon, straffällig gewordene Jugendliche von allen Seiten mit Vorhaltungen über ihr Verhalten zu überziehen: „Wer sich seiner Jugendzeit erinnert, der wird aus den begangenen Fehlern eine Lehre ziehen. Auch der Junge mit schwach entwickeltem Verstand ist sich dessen bewusst, ob er recht oder unrecht gehandelt hat, er weiss es gleich oder erfährt es nach der Tat, wenn er deren Folgen beschauen kann. Es ist ganz gleich, ob er mit oder ohne Überlegung gehandelt hat, er sieht es doch ein, dass er Falsches getan, und will auch nicht immer daran erinnert werden.“ (Holek 1998: 86)
Grenzsetzungen (oder: Körperliche Züchtigung)
Mit der These, dass jeder Mensch auch ohne besondere Belehrung innere Maßstäbe für die Unterscheidung von Gut und Böse hat, entzieht sich Holek dem Dilemma, das daraus besteht, dass er es auf der einen Seite vermeiden will, zu moralisieren und den Jugendlichen Vorhaltungen zu machen, auf der anderen Seite aber erreichen will, dass sie in einem stabilen Wertesystem Orientierung finden. Um die Geltung eines solchen Systems durchzusetzen, scheut sich Holek nicht, das Erziehungsmittel der einfachen körperlichen Gewalt einzusetzen, das zwar in bürgerlichen Kreisen mehr und mehr verpönt ist, aber in der proletarischen Erziehung dieser Zeit noch nicht problematisiert wird. Holek distanziert sich in dieser Hinsicht von den studentischen Helfern der SAG, die seiner Meinung nach viel zu gutgläubig mit Jugendlichen umzugehen pflegten, die einer starken leitenden Hand bedürften. Während sich diese SAG-Mitarbeiter immer wieder von den Jugendlichen über den Tisch ziehen ließen und nicht in der Lage seien, ihnen in ausreichendem Maße Orientierung zu geben, will Holek in jedem Fall Herr der Lage sein und seine Autorität nicht in Frage gestellt sehen.
Holek beschreibt, wie er das im Falle einer jugendlichen Diebesbande gehandhabt hat, die im sog. „Kohlrübenwinter“ von 1916/17 auf dem Güterbahnhof in großem Stil Lebensmittel gestohlen und sich dafür angesichts der allgemeinen Not einen großen Abnehmerkreis aufgebaut hatte. Diese Jugendlichen sehen sich von ihren erwachsenen Kunden in einer Weise ernst genommen, wie sie das vorher nicht gekannt hatten: „Die Jungen fühlten sich nun in der Welt der Erwachsenen als hochgeschätzte Persönlichkeiten. Sie wurden mit der Steigerung dieses Gefühls immer frecher.“ Diese Haltung zeigen sie auch in der von Holek geleiteten „Kaffeeklappe“, sie sind „übermütig“, bespritzen sich gegenseitig mit Getränken, werfen Stühle und Tische um und ‚führen’ „zotige Redensarten“. „Das konnte natürlich nicht geduldet werden. Aber mit beschwichtigendem Zureden war da (…) nichts zu machen.“ Holek findet einen Weg, sich trotzdem durchzusetzen: „Ich musste also nach einem anderen Mittel sinnen. Schliesslich fand ich einen 35 cm langen und 8 cm breiten Riemen. Den schnitt ich in 7 Striemen, band sie an einem Ende mit Draht zusammen, hing sie an ein aus einem Wasserschlauch gemachtes Heft und ein Karwatsch war fertig. Der lag von nun an unter dem Pult an der Seite, von der aus wir bedienten. Dann gab ich ihnen zu wissen, das ich sie nur einmal um Ruhe bitten würde, was nachher folgen würde, wenn sie nicht hören sollten, das würden sie sehen. Sie liessen es aber doch hin und wieder darauf ankommen. Da tanzte jedes Mal mein Karwatsch ohne Worte, ohne Zögern auf ihren Buckeln. Allmählich zogen sie doch daraus eine Lehre und passten auf, ob ich mich nach dem Karwatsch bückte. War es der Fall, dann lief alles fluchtartig nach der Ausgangstür, und ich musste eilen, dass ich noch einige von ihnen mit dem Instrument erwischte. Das musste mit einer Entschlossenheit und Furchtlosigkeit geschehen, wie beim Blücher, wie es im Volksmunde heißt.“ (Holek 1998: 59) Über die Behandlung eines anderen Missetäters schreibt Holek: „Ich nahm meinen Karwatsch, trat hinaus und erteilte ihm eine Tracht Prügel. Damit war die Sache für uns erledigt.“(Holek 1998: 66) Das ist der entscheidende Punkt: Die körperliche Bestrafung ist für Holek eine Möglichkeit, der „Rechtsordnung“ Geltung zu verschaffen, ohne moralischen Druck auf die Missetäter auszuüben und ohne nachtragend sein zu müssen. Holek straft nicht mit Liebesentzug. Er hat auch nicht die Absicht, durch sein Auftreten die unbotmäßigen Jugendlichen zu vertreiben. Im Gegenteil: die schnelle abschließende Bestrafung macht es möglich, die Beziehungen ohne große Unterbrechungen weiterzuführen: „Nach solchen Aufräumungsarbeiten hätte man befürchten können, dass diese Gesellschaft einem nie wieder zu nahe käme. Das war aber anders. Zehn Minuten später fanden sie sich gewöhnlich wieder ein. Dann benahmen sie sich wieder eine ganze Weile anständig.“ (Holek 1998: 60)
In der SAG, die vom radikalen Pazifismus ihres Gründers und Leiters Friedrich Siegmund-Schultze geprägt ist, findet man Holeks Erziehungsmethoden befremdlich, nur sein Sonderstatus, der sich aus seiner besonderen Nähe zur Zielgruppe ergibt, schützt ihn vor Abmahnungen. Heute könnte sich kein Träger der Jugendarbeit leisten, einen Mitarbeiter, der solchermaßen auftritt, in seinen Reihen zu dulden. Aber, was die Haltung angeht, bei Zielgruppen, die in anderen kulturellen Bezugssystemen leben, auch Mechanismen bewusst einzusetzen, die man eigentlich problematisch findet, gibt es wieder Parallelen zu heutigen Jugendarbeitern in der aufsuchenden Jugendarbeit – wenn z.B. bewusst gegenüber jüngeren Desparados arabischer Herkunft die disziplinierende Rolle der älteren Brüder eingesetzt wird.
Wichtig ist, dass es dabei immer um das Wohl derjenigen geht, denen gegenüber Strenge gezeigt wird, dass also auch dahinter eine liebevolle und respektierende Grundhaltung steckt. Holek drückt das so aus: „Wenn der Sturm vorüber war, gab es auch wieder gutes Wetter. Nach solchen Unterbrechungen walteten die Höflichkeit und Liebe ihres Amtes weiter, aber Liebe, die streng und unnachsichtig ist gegen alles Unrechte.“ (Holek 1998: 62)
Umgang mit selbstorganisierten Gruppen und Cliquen
Die SAG macht nicht nur ihre „eigene“ Kinder- und Jugendarbeit, sie bietet auch Raum für selbstorganisierte Gruppen unterschiedlicher Couleur. In den Räumen der SAG tagen regelmäßig „kommunistische Jugendgruppe(n)“, „die ‚Anarchistische Jugend’, ‚Syndikalistische Jugend’, ‚Sozialistische Lebensreformer’, ‚Bund für Arbeiter- und Wanderheime’, ‚Arbeiter-Esperanto’, die ‚Sozialistische Jugend’“. (Holek 1998: 158) Holek legt es bewusst darauf an, dass sich die Mitglieder dieser Gruppen unter einem Dach begegnen, weil er möchte, dass sie „sich gegenseitig nicht totbeissen, sondern vertragen“. (Holek 1998: 158) Holek steht den jugendlichen Mitgliedern dieser Gruppen mit großer Sympathie gegenüber, auch wenn er die von den Gruppen vertretenen ideologischen und politischen Positionen nicht teilt. „Da hiess es, sie in ihren Idealen zu verstehen, sie gern zu haben und als Menschen ernst zu nehmen, aber nicht daran zu glauben, dass sie das sind, wie sie reden.“ (Holek 1998: 158) Diese Grundhaltung ermöglicht es Holek, mit den unterschiedlichen Gruppen im Gespräch zu bleiben, ohne mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten. Von Neutralität im Sinne von Indifferenz hält er nämlich nichts: „Neutral heisst, entweder von der Sache nichts wissen oder sie nicht sagen wollen.“. (Holek 1998: 174) Holek sieht in dem Enthusiasmus der jugendlichen Aktivisten etwas Wertvolles, aber auch Unreifes und Missbrauchbares: „Die Gutmütigkeit, der Glaube, Wille, Hoffnung, Sehnsucht und die Phantasie überwiegen auch bei der heutigen Jugend das Verstandesvermögen und die Lebenserfahrungen, wie es in unserer Jugendzeit auch der Fall gewesen ist. Wer diesen natürlichen Zustand der Jugend zu seinem persönlichen oder politischen Vorteil missbraucht, der macht sich eines Verbrechens an der Jugend schuldig.“. (Holek 1998: 174) Holek sieht seine Aufgabe nicht darin, die Jugendlichen von seiner eigenen politischen oder weltanschaulichen Haltung zu überzeugen, aber er setzt sich dennoch mit ihnen auseinander und versucht sie insbesondere auf Widersprüche zwischen ihrem Denken und Handeln hinzuweisen. So macht er den Anarchisten klar, dass es sich mit ihren Idealen nicht vertrüge, sich eine Zeitung und andere Drucksachen liefern zu lassen, aber den Drucker nicht zu bezahlen. Als es in dieser Gruppe einmal einen Streit gibt, der in Handgreiflichkeiten auszuarten droht, stellt er ihnen die Frage, „ob sie auf diese Weise die bürgerliche Welt überwinden wollen“ und registriert zufrieden, dass die Frage bei Ihnen ‚Bestürzung’ auslöst. (Holek 1998: 169) Die kommunistischen Jugendlichen verblüfft er, als er ihnen unter Berufung auf ihre kommunistische Moral eine Menge Geld (200 Mark) leiht, ohne einen Schuldschein zu verlangen: „Als ich ihnen das Geld auf den Tisch legte, fragte mich der eine, ob ich einen Schuldschein wünsche. ‚Was’, gab ich verwundert zurück, ‚ihr seid doch Kommunisten, die betrügen doch nicht!’ Beschämt gingen sie davon. Am dritten Tag brachten sie mir das Geld zurück. ‚Na’, fragte ich, ‚wollt ihr darüber eine Quittung haben?’. Das verneinten sie kleinlaut.“ (Holek 1998: 166f.)
Trotz seiner politisch begründeten Distanz zu ihren inhaltlichen Vorstellungen (Holek ist nach wie vor Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und versteht sich selbst als christlicher Sozialist), fällt es ihm leicht, mit den Gruppen umzugehen, die ein politisches Selbstverständnis haben, weil er sich mit ihnen auf der Basis eines Wertesystems auseinandersetzen kann. Das funktioniert nicht mit einer „wilden Wandergruppe“, dabei handelt es sich um eine der berühmt-berüchtigten ‚wilden Cliquen’, die im Berlin der zwanziger Jahre aus dem Boden schießen und heute als eine ‚proletarische Variante der bürgerlichen Wandervogelbewegung’ gedeutet werden. (Lindner 1998: 173) Holek macht seine Erfahrungen mit einer Gruppe, die sich „Ostpiraten“ nennt und zweimal in der Woche Räume der SAG nutzt. Sein Fazit:: „Schlimme Erfahrungen machte ich mit einer sogenannten wilden Wandergruppe.“ Die Gruppe wird von ihm folgendermaßen charakterisiert: „Junge, rohe, sinnlich veranlagte, alkoholliebende, undisziplinierte und geistig uninteressierte Burschen und Mädchen“ und „Diese Wandervögelabart erkennt man schon in den Bahnzügen, die sich bemerkbar macht an ihrem frechen und rücksichtslosen Benehmen, und in den Wäldern und auf den Wiesen hausen sie wie die Heuschrecken.“ (Holek 1998: 171) Holek lehnt es nicht ab, sich auch mit diesen Gruppen zu beschäftigen: „Ich wollte es wagen, auch mit dieser Menschensorte mein Heil zu versuchen“ (Holek 1998: 171), aber, anders als bei den Arbeiterjugendlichen (auch denen aus den untersten Schichten der Arbeiterschaft) findet er keinen rechten Zugang zu ihnen. Allerdings stellt er fest, dass sich auch diese Gruppe durch seine strengen Maßregeln durchaus disziplinieren lässt: „Ich bin mit ihnen insofern zufrieden gewesen, dass kein einziger von ihnen es wagte, mir zu widerstehen, wenn ich etwas anordnete, im Gegenteil, sie alle leisteten meinen Befehlen willig Folge.“ (Holek 1998: 172)
Als Streetworker hätte es Holek heute vor allem gerade mit solchen Gruppen zu tun, für die ihm zwar nicht gänzlich das Verständnis fehlt, bei denen aber seine vorzugsweise benutze Methode der produktiven Verunsicherung und Wertebildung aus der gleichnishaften Interpretation von Alltagserfahrungen nicht greift.
Fazit
Rolf Lindner, der Herausgeber des dritten Bandes von Wenzel Holeks Autobiographie, hat diesen zutreffend einen „Randseiter“ genannt (Lindner 1998: 17), jemand zwischen den Welten, jemand, der am Rande verschiedener Kulturen steht. So verwundert es nicht, dass sich Teile seines Denkens und Wirkens gegen den Versuch sperren, ihn zu einem exemplarischen Vorläufer und Vorbild unserer heutigen Streetworkansätze zu machen. Aber das heißt nicht, dass wir nicht von ihm lernen können und dass sich die Jugendarbeiter von heute nicht die eine oder andere Scheibe von ihm abschneiden könnten. Und alle diejenigen, die auch in diesem Arbeitsfeld vor allem auf formalisierte Ausbildungsgänge und Abschlüsse blicken, können in ihm ein Beispiel dafür finden, was Szenenähe vermag, wenn sie mit einer klaren Haltung und einer überzeugenden Ethik verbunden ist.
Literaturverzeichnis:
Foerster, Dr. Fr.(iedrich) W.(ilhelm) „Jugendlehre“, Berlin (Reimer) 1906
Hegner, Victoria „Die Suche nach der Metapher“ in Lindner, Rolf (Hrsg.) „’Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land’ – Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“, Berlin (Akademie-Verlag) 1997, S. 109-127
Holek, Wenzel „Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher – Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters – II. Teil“, Jena (Diederichs) 1921
Holek, Wenzel „ Meine Erfahrungen in Berlin Ost“, eingel. und hrsg. von Rolf Lindner, Köln/Weimar/Wien (Böhlau) 1998
Lindner, Rolf „’Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land’ – Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“, Berlin (Akademie-Verlag) 1997, Vorwort S. 9-11
Oelschlägel, Dieter „Geistiges Ringen zweier Kulturen“ in Sozial Extra 11/91 S.14f.
Sabelus, Esther „Gefahr und Gefährdung, Arbeiterjugendliche um 1900 im Blick bürgerlicher Jugenderzieher“, in Lindner, Rolf (Hrsg.) „’Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land’ – Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“, Berlin (Akademie-Verlag) 1997, S. 95-108
Vogelsberg, Annette „Wenzel Holek“ in Lindner, Rolf (Hrsg.) „’Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land’ – Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“, Berlin (Akademie-Verlag) 1997, S. 161-177
Erschienen in:
Andrea Schmidt, Tamara Musfeld (Hrsg.):
Einmischungen. Beiträge zu Theorie und Praxis Sozialer Arbeit.
IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation (Frankfurt) 2005.
ISBN 978-3-88939-759-1