Sexarbeit in Zeiten der Pandemie. Arbeiten am Brennpunkt.
In dieser Reihe von Artikeln soll die besonders vulnerable Personengruppe der Sexarbeiter*innen im Vordergrund stehen. Wir haben uns dazu entschieden, von Sexarbeiter*innen zu sprechen, da wir für Empowerment stehen und Geschlechtergerechtigkeit gedanklich anstreben, auch wenn diese (noch) utopisch ist. Eine differenzierte Betrachtung der Prostitution findet dann Platz, wenn Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse den Hauptdiskurs darstellen.
Weil die Lebensrealität der Adressat*innen am besten widergespiegelt wird, werden Männer als Kunden der Frauen* betrachtet. Aus diesem Grund ist dieses Geschlechterverhältnis nicht als diskriminierend zu deuten und wird einer weiteren Differenzierung unterzogen, an den Stellen, an denen wir dies für nötig erachten.
Wo wir uns befinden. Kurfürstenkiez.
In gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen soziale Distanz den Alltag prägt, darf nicht vergessen werden, dass menschliche Zuwendungsbedürfnisse deshalb nicht abnehmen. Die Nichterfüllung dieser kann zu aggressiver Abfuhr der Energie führen und letztlich die Gefährdung der Frauen*, die am Straßenstrich an der Kurfürstenstraße arbeiten, weiter vorantreiben. Die ohnehin unklaren Grenzen scheinen hier noch weniger von Bedeutung, triebhaftes Machtstreben als Abfuhr aufgestauter Aggression kann ausgelebt werden. In Zeiten sozialer Instabilität nehmen auch psychische Symptome und Störungen zu – auch Kunden der Frauen* bleiben davon nicht zwingend ausgenommen. Ein weiterer Gefahrenaspekt für Frauen*?
Aus dem Arbeitsalltag.
In unserer Arbeit vor Ort zeichnete sich der zunehmend aggressive Umgang von Freiern mit Frauen* ab, bekannte Vergewaltigungen nahmen exponentiell zu. Noch am Anfang der Pandemie waren mehr Frauen* vor Ort, im Frühling 2021 zeichnete sich ein deutlicher Rückgang der Frauen ab, die vor Ort ihre Dienste anbieten.
Wir konnten vor Ort einen raschen Anstieg vom Konsum von Stimulanzien, vor allem von Crystal Meth, beobachten und versuchen Frauen* untereinander zu solidarisieren sowie zu Anzeigen zu motivieren. Verstärkt werden Frauen* vor Ort ausgebeutet, welche unter starkem Konsumdruck und psychischer Labilität leiden. Die Angst vor den Konsequenzen, die Freier potenziell umsetzen, wenn sie von Frauen* angezeigt werden, spiegelt die Verzweiflung wider und lässt innerlich erstarren, bevor Anzeige erstattet wird.
Die Not der Frauen*, Geld für den nächsten Tag zu beschaffen, ist durch Corona gestiegen und das Gesundheitsrisiko nicht nur durch das Nichttragen der Masken weiter erhöht. Viele Frauen, denen es möglich war, in ihre Heimatländer zurückzukehren, taten dies noch bis zum Winter 2020.
Seitens der Senatsverwaltung für Gesundheit wurde die Obdachlosenunterkunft „Pumpe“ mit 77.000 € finanziert, um den Frauen*, die an der Kurfürstenstraße arbeiten, einen Schlafplatz zu stellen.
Angesichts der gestiegenen sozioökonomischen Probleme der Frauen* und das Hineindrängen in die Illegalität kann hier kaum von staatlichem Schutz gesprochen werden und die Finanzierung der „Pumpe“ scheint ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein.
Polizeiliche Kontrollen.
Polizeiliche Kontrollen kommen zu dem Ergebnis, dass der Besitz von Kondomen bei Taschenkontrollen als Beweis für aktive Sexarbeit gilt. Da die Exekutive verstärkt vor Ort ist, wird in einem Verkaufsgespräch zwischen Mann und Frau*, wenn dieses als Angebot für sexuelle Dienstleistungen erkannt wird, der Kunde bestraft. Das nordische Modell hat zum Ziel, Prostitution abzuschaffen ohne Frauen* zu kriminalisieren. Dabei fallen zwischen 250 und 1.000 € für den Käufer an, der vor Ort bestraft wird. Ein weiterer Nebeneffekt soll die sinkende Kriminalitätsrate sein, die durch das Sexkaufverbot erwirkt werden soll.
Moralische Projektion.
Es scheint vergessen zu worden zu sein, dass diese Regelung eine moralische Projektion darstellt, die Männer zu Tätern und Frauen zu Opfern macht, schwach und untergeben darstellt. Diese Ansichten werden auch vom BesD[1] vertreten, der Forderungen für die Einführung des nordischen Modells durch die Zivilgesellschaft in Deutschland seit der Pandemie stärker wahrnimmt.
In der Politik wird diskutiert, ob die Altersgrenze für zulässige Sexarbeit auf 21 Jahre angehoben werden soll. Dabei dreht sich die Argumentation um „Reife und Selbstständigkeit in einem sehr schwierigen Beruf“, die wiederum als Schutz für Frauen* verkauft wird. Was bleibt, ist der diskriminierende Charakter und die Frage, warum Kriegsdienst bereits mit 18 Jahren erlaubt ist, wenn doch potenziell traumatisierende Folgen eine nicht minder zu bewertende Gemeinsamkeit der beiden Berufe darstellen.
Um eine Reproduktion der tradierten Rollenmodelle abzuschaffen, braucht es tiefergreifende Maßnahmen, die systemische Zusammenhänge aufdecken und dekonstruieren, anstatt Frauen* sich selbst zu überlassen, mit Schuld zu behaften und weiterhin zu viktimisieren.
[1] Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V.