Straßensozialarbeit in Berlin

Elvira Berndt „Gratwanderungen“

„Gratwanderungen“
Elvira Berndt
„Widersprüche“ Heft 100, Kleine-Verlag 2006
„(…) verzweifelt
wenn da nur Unrecht war und keine Empörung“
aus Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“Elvira Berndt:Gratwanderungen der Jugendsozialarbeit in schwierigen Zeiten
Beneidenswert: die kritischen Sozialarbeiter der Nach-68er-Zeit, die sich zum Ziel setzen konnten, die ihnen anvertrauten jungen Menschen davor zu bewahren, als Lohnsklaven in der Maschinerie des kapitalistischen Verwertungsprozesses verschlissen zu werden. Wo es uns heute doch schon fast als der höchste Erfolg unserer Bemühungen gilt, wenn wir es geschafft
haben, dass die Jugendlichen, mit denen wir es im Arbeitsfeld Streetwork zu tun haben, die Perspektive von Erwerbsarbeit nicht gänzlich aus den Augen verlieren. Zwischen Befriedung und Hilfestellung Aufsuchende Jugendsozialarbeit (Streetwork) wurde in Berlin Anfang der 90er Jahre mit nicht unerheblichen öffentlichen Fördergeldern installiert, weil es zu viele junge Menschen gab, die sich jenseits der etablierten Jugendarbeit Betätigungsfelder im öffentlichen Raum gesucht
hatten, die man mit einigem Recht als sozial schädlich empfand – insbesondere dann, wenn Interessen Dritter berührt waren. Diese Gruppen, die für die Jugendlichen ein außerordentlich
wichtiger Schutz- und Aktionsraum waren, hatten bis zu 150 Mitglieder, entwickelten Gangstrukturen und gaben sich aus amerikanischen Filmen entlehnte Namen wie Black Panthers, Barbaren, Fighters usw. Natürlich waren diese Gangs, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit durch Jacken mit entsprechender Aufschrift dokumentierten, in ihrem Freizeitverhalten ausgesprochen auffällig – schon allein durch ihre zahlenmäßige Stärke, aber auch durch ihr Verhalten im öffentlichen Raum. Die polizeiliche Kriminalstatistik vom Sommer 1989 weist denn auch einen deutlichen Anstieg von Diebstählen und Überfällen auf.
Plötzlich gab ein öffentlich wahrgenommenes und störendes Problem. Die Jugendhilfe war gefordert, aber sie hatte den Kontakt zu diesen Jugendlichen längst verloren. Und eine Gang
mit 130 Mitgliedern kann man auch nicht mal kurz in eine Jugendeinrichtung holen, schon gar nicht zum Keramikkurs. Die einzigen Erwachsenen, die zu diesen Jugendlichen sehr schnell
Kontakt aufnahmen, waren Polizisten. Aber auch die Polizei war auf dieses Phänomen nicht vorbereitet und ihr Handeln gerade in der ersten Zeit nicht unbedingt deeskalierend. Die staatlichen Geldgeber verknüpften mit ihrer Förderung von Streetwork den Auftrag, „die Jugendlichen von der Straße zu holen“. Die primäre Zielsetzung war ordnungsrechtlich: die Befriedung des öffentlichen Raumes. Dass die Interventionen als Maßnahmen der Jugendhilfe vor allem die Lebensperspektiven der Jugendlichen in den Blick zu nehmen hatten, musste
dazu nicht in Widerspruch geraten – konnten doch vielleicht mit Angeboten einer „sinnvollen Betätigung“ zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Beruhigung der Lage auf
Straßen und Plätzen sowie friedfertig-positive Entwicklung von Gruppen und Individuen. Die Erfinder dieser Doppelstrategie konnten zufrieden sein, die Rechnung ging erst einmal
auf. Tatsächlich lösten sich Gangs und um territoriale Einflüsse streitende Großgruppen sukzessive auf. Eine Ursache dafür waren mit Sicherheit auch die erheblichen polizeilichen
Repressionsmaßnahmen, denen die Gangs ausgesetzt waren. Überall dort allerdings, wo die jugendlichen Gangmitglieder Bedürfnisse bezüglich der Gestaltung ihres Alltags oder der
Entwicklung individueller Lebensperspektiven entwickelten, konnten über die Unterstützung durch aufsuchende Jugendsozialarbeit Ausdifferenzierungsprozesse innerhalb der
Großgruppen gestaltet werden, in deren Ergebnis bsplw. Teile der „Barbaren“ (damalige Gang in Schöneberg) sogar einen Verein gründeten, um die Verantwortung über den eigenen
Jugendtreffpunkt Katzler Straße zu übernehmen. Nicht zuletzt haben diese Ausdifferenzierungsprozesse so manchen Jugendlichen vor der Jugendhaft bewahrt. Im Spannungsfeld widerstreitender Erwartungen Streetworker sagen: Das Vertrauen der Jugendlichen ist unser ganzes Kapital und nur dieses gibt uns die Interventionsberechtigung auch in sehr schweren Konflikten. Dieses Vertrauen von Jugendlichen zu bekommen, die von der Erwachsenenwelt enttäuscht sind, die ausgegrenzt werden oder sich selbst ausgrenzen, die manchmal kaum noch beziehungsfähig sind, die Gewalt erlebt haben und die selbst Gewalt als kostengünstiges, einfaches und ständig
verfügbares Kommunikations- und Machtmittel einsetzen, ist alles andere als einfach, aber es ist möglich.
Streetworker begegnen den Jugendlichen an ihren Treffpunkten im öffentlichen Raum als Personen, die es ernst meinen und sich freiwillig auf sie einlassen. In den meisten Fällen gehen die Jugendlichen auf dieses Angebot ein. Die Streetworker signalisieren ihnen immer wieder, dass sie an den Personen, die hinter Aggressivität und martialischen Gebärden stecken, ein wirkliches Interesse haben. Das kann man, bei aller Professionalität, nicht spielen, das muss man ganz authentisch vermitteln. Alles Unechte spüren die Jugendlichen sofort, damit haben sie ausreichende Erfahrungen. Und Streetworker wissen, dass sie dieses einmal gewonnene Vertrauen nicht enttäuschen dürfen. Auch deshalb nicht, weil dieses Vertrauen bei manchen Jugendlichen die letzte schmale Brücke zur Erwachsenenwelt und
damit zur sogenannten Normalgesellschaft ist. So wichtig es allerdings den Auftraggebern ist, dass Streetwork genau dieses Vertrauensverhältnis zu sonst als unerreichbar geltenden
Gruppen und Szenen aufbauen kann, so schwierig ist es in der Folgezeit, für die daraus resultierenden Konsequenzen Akzeptanz zu bekommen. Vertrauensschutz in der Beziehung zwischen Jugendlichen und Streetworkern gilt eben auch dann, wenn Jugendliche straffällig werden bzw. die Gesellschaft das Verhalten oder die weltanschaulichen Orientierungen von
Jugendlichen als untragbar empfindet.
Ein Zeugnisverweigerungsrecht gibt es in diesem Arbeitsbereich bis heute nicht, aber auch abseits dieser eher juristischen Frage sitzen Streetworker permanent „zwischen allen Stühlen“. Wenn sie mit den Jugendlichen etwas erreichen wollen, brauchen sie die Akzeptanz bei Institutionen und Behörden, von denen sie
allerdings sehr schnell in „Sippenhaft“ für die problematischen Verhaltensweisen der Jugendlichen genommen werden.
Konfliktpotenzial gibt es dabei reichlich, denn in den seltensten Fällen lassen sich die Interessen der Jugendlichen und die Interessen der lobbystärkeren Erwachsenenwelt „einfach so“ unter einen Hut bringen. Stichwort öffentliche Räume: Der öffentliche Raum ist legitimer Lebensraum (auch) von
Jugendlichen und es geht nicht darum, diese dort wegzuholen, um sie andernorts „aufzubewahren“, sondern es geht darum, einen Prozess von Toleranzentwicklung undm Interessenausgleich unter aktiver Mitwirkung der Jugendlichen zu begleiten. Das beinhaltet zunehmend auch, öffentliche Plätze für die Öffentlichkeit und damit auch als Treffpunkte für Jugendliche zurückzuerobern. Das gilt sowohl dort, wo öffentliche Plätze veröden als auch dort, wo der öffentliche Raum so stark kommerziell verwertet und verwaltet wird, dass Jugendliche schon a priori stören und verdrängt werden. Zu erreichen, dass sich Wirtschaft, Politik und Anwohner auf die Lebenslagen und Bedürfnisse der „störenden“ Jugendlichen überhaupt einlassen und dann auch noch an Konfliktlösungen mitarbeiten, ist eine ständige Aufgabe von Streetwork, zumindest in einer Großstadt wie Berlin. Wenn dies gelingt, ist das Ergebnis immer auch eine Verbesserung der Lebensqualität aller Konfliktbeteiligten, aber in
den seltensten Fällen ist es möglich, einen solchen Konfliktlösungsprozess vorausschauend in Gang zu setzen. In der Regel ist die Erwachsenenwelt erst dann bereit, sich einzulassen, wenn ihre Möglichkeiten der Repression und Strafandrohung nicht zum gewünschten Ergebnis
geführt haben. Lerneffekt für die Jugendlichen ist dabei bedauerlicherweise immer wieder, dass erst ihr sozial inadäquates Verhalten dazu führt, dass ihnen zugehört wird.
Stichwort Selbstbestimmung: Anspruch von Streetwork ist es, die Subjektposition der jugendlichen zu stärken. Streetworker begleiten Jugendliche bei einer Problemlösung, und zwar in dem Maße, das sie brauchen und das sie annehmen können. Der Erfolg der Anstrengung soll immer der Erfolg der Jugendlichen sein, nicht der Erfolg der Streetworker. Aufgabe und Anspruch von Streetwork ist es nicht, eine pädagogische Rundumbetreuung zu leisten, die neue Abhängigkeiten schafft, sondern Jugendlichen das notwendige Maß an Unterstützung zu geben, um ihr Leben außerhalb von Gewalt und Straffälligkeit selbst in die Hand nehmen zu können. Gerade in der Ökonomisierungs- und Qualitätsdebatte in der
sozialen Arbeit ist dieser konsequente Ansatz schwer durchzuhalten, denn Träger sollen ja (und müssen, um überhaupt weitere Finanzierungen zu erhalten) IHRE Erfolge darstellen und verkaufen. Dabei greift bei den Geldgebern immer stärker eine „Maßnahmelogik“ um sich, in der nur das wahrgenommen wird, was von der jeweiligen Stelle finanziert wird (alles andere wird quasi ausgeblendet) und in der die Tendenz besteht, die Jugendlichen zu Objekten
pädagogischer Einwirkung zu degradieren.
Lehrmeister Realerfahrung Seit Darwin gehen wir davon aus, dass alle Lebewesen die Tendenz haben, sich optimal auf
ihre Umweltbedingungen einzustellen und dass das sogar eine genetische Komponente bekommt. Beim Menschen läuft das weniger naturhaft ab. Dennoch: Pädagogik und
Psychologie wissen um die Bedeutung von Schlüsselerlebnissen, von Erfahrungslernen, von informellen Lernprozessen.
Wie schön wäre es, wenn die Jugendlichen, mit denen es Streetwork zu tun hat, nur eine verzerrte Wahrnehmung der Realität hätten und nur „aufgeklärt“ werden müssten über die
wahren Verhältnisse, Strukturen und Gegebenheiten in unserer Gesellschaft. Wenn Sätze wie „Kannste was, dann wirste was“ noch verifizierbar wären, wenn legales Verhalten tatsächlich
zum größeren Erfolg führen würde, wenn Kollegialität und Solidarität in allen gesellschaftlichen Bereichen honoriert werden würden, wenn Missgunst zum Misserfolg führte und für harte Arbeit guter Lohn gezahlt würde, dann wäre es einfacher, Jugendlichen zu vermitteln, welche Erwartungen die Gesellschaft an sie hat und warum ein entsprechendes Verhalten für den Einzelnen und die Gesellschaft sinnvoll sind. Doch das Verhältnis von jugendlichen Realitätserfahrungen und die offiziellen
gesellschaftlichen Normen und Werten klafft immer mehr auseinander. Das konservative Festhalten der Gesellschaft an Werten und Lebensvorstellungen, die längst nicht mehr
gesellschaftlich einlösbar sind, lässt sich wahrscheinlich an keinem Beispiel so gut bebildern wie an der Jahrhundertreform Hartz IV – an dem absurden Versprechen, dass die Zukunft der
Erwerbsarbeit durchaus gesichert ist, wenn sich doch nur die Arbeitslosen mal ein bisschen bewegen. Die Gesellschaft verlangt von den (Sozial-) Pädagogen etwas nahezu Unmögliches: Sie sollen Werte und Lebensvorstellungen vermitteln, die den Realitätserfahrungen und Wahrnehmungen der Jugendlichen nicht nur nicht entsprechen, sondern oft genug im eklatanten Widerspruch zu diesen stehen. Erwartet wird von Pädagogen nicht die Aufklärung über die gesellschaftliche Realität, sondern die Predigt über ein gewünschtes Verhalten. Dabei ist es schon erstaunlich, dass die meisten Jugendlichen friedlicher, angepasster und integrierter sind, als es ihrer wirklichen Situation entspricht. Diejenigen der Jugendlichen, die
auf ihre Art und Weise revoltieren, sich Schule und Eltern entziehen, sich den begehrten Wohlstand, den sie legal nicht erreichen können, illegal beschaffen oder sich die
Anerkennung, die ihnen anderswo verwehrt bleibt, auf der Straße mit der Macht des Stärkeren beschaffen, reagieren oft logischer auf ihre empfundene oder reale Lebenssituation. Doch
bringt die unaufgeklärte, individualisierte Revolte irgendeine Lösung? Sind es nicht dann doch wieder die Jugendlichen, die den Kürzeren ziehen und sich noch weiter in die
Ausweglosigkeit manövrieren? Was Streetworker in diesem Dilemma zwischen Predigt und Fatalismus leisten können, ist das
Schaffen von ERFAHRUNGSRÄUMEN, in denen tatsächlich andere Erfahrungen REAL gemacht werden – und aus denen sich eine konstruktiv-kritische Bereitschaft entwickelt, die jeweiligen Vorhaben nicht nur als Inselleben zu verwirklichen sondern wieder in die ganze Gesellschaft hineinzuwirken.
Solche Art Realerfahrungen können sein:o die menschliche Qualität wird nicht durch das Maß der LEISTUNGSFÄHIGKEIT bestimmt (anders als in der Schule)o am angesehensten ist nicht der/die, der/die sich die verschärftesten Klamotten leisten kann (anders als in der unbeeinflussten peer group)o es gilt nicht das Recht des Stärkeren (anders als auf der Straße)

Selbstorganisation und Selbstverwaltung, Jugendkulturarbeit mit gekonnter öffentlicher Ausstrahlung, Juniorfirmen und internationaler Austausch, Kultur- und Sportevents u.v.m. –
all das ist geeignet, Langzeiterfahrungen zu ermöglichen, Selbstbewusstsein und Selbständigkeit zu erhöhen, ermöglicht alternative Gruppenbildung, trainiert das pralle Leben
im Kleinen und vermittelt die Erkenntnis, dass Realität anders sein kann, dass sie von jeder und jedem (mit-) gestaltbar ist. Wichtig ist dabei, dass all diese Projekte tatsächlich in der
Realität (mit all ihren Hindernissen und Widerständen) stattfinden, nicht unter einer eigens geschaffenen pädagogischen Käseglocke. Das ist zwar meist anstrengender, aber
Realerfahrungen sind nur in der Auseinadersetzung mit der Realität möglich, nicht unter sterilen Laborbedingungen.
Zwischen „Akzeptanz“ und Intervention Die „akzeptierende Jugendarbeit“, in den 1990er Jahren als pädagogisches Konzept zur Arbeit mit gewaltbereiten rechtsorientierten Jugendlichen formuliert, ist bald in Verruf geraten und mit ihr, so scheint es in vielen Debatten, auch der Akzeptanzbegriff als solcher. Dabei kann es doch gar nicht so schwer sein, zu begreifen, dass Basis grundsätzlich jeder Beziehung Akzeptanz des jeweils Anderen ist. Wenn Streetworker Jugendlichen eine Beziehung anbieten, dann geschieht das i.d.R. in der Lebenswelt der Jugendlichen – dort wo diese die Regeln bestimmen und die Streetworker Gäste sind. Hinter sehr problematischen Verhaltensweisen das zu finden, was Jugendliche liebenswert macht, ist manchmal die schwierigste Aufgabe, der Streetworker sich stellen müssen. Eine freiwillig eingegangene Beziehung, ohne dass man sich mag, ist schwer denkbar und erst eine belastbare Beziehung führt dazu, dass Veränderungen von Verhaltens- und Denkmustern in der gemeinsamen Arbeit möglich sind. Streetwork leistet Lebenshilfe, ohne Vorbedingungen zu stellen. Die Veränderung ist nicht die Voraussetzung für die gemeinsame Arbeit, für Hilfe- und
Unterstützungsprozesse, sondern immer nur mögliches Ergebnis. Möglich auch nur dann, wenn die Jugendlichen selbst zur Veränderung bereit sind. Die gesellschaftliche Debatte
hingegen stellt vermehrt die Intervention in den Mittelpunkt, ohne den Schritt der Akzeptanz zu gehen. Jugendliche aus dem Neuköllner Reuterkiez haben kürzlich, als der Hilferuf der Lehrer aus der Rütli-Schule für Schlagzeilen sorgte, Respekt als eine Bedingung für ihre Bereitschaft, sich auf schulische Lernanforderungen einzulassen, genannt. Und damit meinten sie als erstes den Respekt, von dem sie vermissen, dass er ihnen von denen entgegengebracht wird, die ihrerseits Respekt einfordern. Dieser Begriff ist vielleicht besser als der problematische Akzeptanzbegriff geeignet, die Art von gegenseitiger Beziehung zu beschreiben, die es im
pädagogischen Handeln herzustellen gilt und die sich von Bevormundung ebenso unterscheiden muss wie von Kapitulation. Respekt schließt Intervention nicht aus. Im Gegenteil: Wenn es ein Interesse am Wohlergehen des Gegenübers gibt, kann es geradezu geboten sein, in die Auseinandersetzung zu gehen – aber im Geist von Offenheit und Fairness, ohne von vornherein festgelegtes Ergebnis. Dies entsteht vielmehr als Resultat eines
dialogischen Prozesses, in den beide Seiten sich mit prinzipiell gleichen Rechten einbringen. Leitkulturen und Leitbilder
Mit gutem Grund wird konstatiert, dass es unserer Gesellschaft an allgemein akzeptierten verbindlichen gemeinsamen Wertvorstellungen mangelt. Das wird besonders deutlich in den
Arbeitsfeldern der Streetworker, die es vor allem mit Jugendlichen zu tun haben, die ihre Orientierung abseits des Mainstreams suchen. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings in der Regel, dass ihre Wunschvorstellungen und Leitbilder sich zwar von den ideologisch gewünschten, nicht aber von den real
vorherrschenden Leitideen unterscheiden.

o Da gibt es z.B. die beklagte weitgehende Akzeptanz von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen – Vorbilder dafür finden sich nicht nur in der Weltpolitik sondern die relativ rücksichtslose machtmäßige Durchsetzung eigener
Interessen prägt zunehmend auch unsere Wirtschaftsordnung, zumindest seit im Zeichen der Globalisierung die „soziale Marktwirtschaft“ ein belächeltes Relikt vergangener Zeiten geworden ist.

o Da gibt es z.Β. die Träume, mit möglichst wenig Arbeitseinsatz möglichst großen Reichtum zu ernten. Das entspricht keiner „protestantischen Ethik“, aber unterscheidet sich nicht grundlegend von den Bildern, die Tag für Tag von den Medien erzeugt werden, die nicht müde werden, die Traumsummen zu verbreiten, die prominente Models, Schauspieler und Banker für vergleichsweise überschaubare Leistungen abkassieren. Selbst bei der Sportberichterstattung gehört es ja inzwischen zum guten
Ton, Siegprämien Nachrichtenwert zu geben – und den Millionensummen, die bei Spielerverkäufen ausgehandelt werden.

o Da gibt es z.B. eine weitgehende Bewertung anderer Menschen nach Äußerlichkeiten: nach den „Markenklamotten“, die jemand trägt, nach dem Handy, das er/sie sich
leisten kann, nach der Nähe oder Ferne zu gerade propagierten Schönheitsidealen.

Es muss doch nicht verwundern, dass diese Jugendlichen nicht immun sind gegen das Dauerfeuer, das seitens der Werbung auf sie einprasselt, auf allen Kanälen und von allen Plakatwänden – ganz legal und letzten Endes von der gleichen Erwachsenenwelt verantwortet, die den Werteverlust bedauert. Streetworker haben es nicht leicht in ihrem Kampf gegen die Einflüsse dieser wirkungsvollen „heimlichen Erzieher“. Und wenn sie es dann noch mit jugendlichen Migrant/inn/en zu tun haben, müssen sie sich
auch noch mit Risiken und Nebenwirkungen der unsäglichen Postulate nach einer Dominanz der „deutschen Leitkultur“ herumschlagen. Die entsprechende Debatte sendet das fatale
Signal in Richtung der Migrantencommunities, dass ihre Vorstellungen in der (durchaus notwendigen) Verständigung über gemeinsame Werte keine Rolle spielen sollen. Ihnen wird
vielmehr angekündigt, dass sie sich an etwas anzupassen haben, von dessen Formulierung sie selbst ausgeschlossen sind. Dieser autoritäre Gestus verhindert gerade das, was er zu
erreichen verspricht, einen wirkungsvollen „Gesellschaftsvertrag“, der nicht durch Lippenbekenntnisse sondern durch Zustimmung getragen wird. Lebensweltorientierung, der sich Streetwork in ihren Grundprinzipien verpflichtet fühlt, heißt nicht einen Werteverlust zu beklagen, sondern mit den Jugendlichen gemeinsam in der
gesellschaftlich vorhandenen Wertevielfalt auf die Suche zu gehen: Auf die Suche nach lebbaren Werten, die Lebensperspektive und Lebensqualität ermöglichen.
Flickschusterei oder gesamtgesellschaftliche Perspektive
Streetworker haben ein Dilemma, das sie mit den kritischen Sozialarbeitern der 68er Generation teilen: Mit ihrer Hilfestellung bei kleinen und großen Alltagsproblemen der Jugendlichen und mehr noch mit ihren Interventionen zur Konfliktvermeidung mit dem gesellschaftlichen Umfeld, mit rivalisierenden Jugendgruppen, mit Eltern, mit Ämtern, Strafverfolgungs- und Justizbehörden leisten sie einen Beitrag zur „Befriedung“ von Verhältnissen, die das nicht immer verdienen, sondern dringend veränderungsbedürftig sind.
Aber bei allem Verständnis für die (angemessene) Unangepasstheit in vielen Verhaltensweisen ihrer Zielgruppen sehen sie, anders als ihre Vorgänger von damals, ihre
Aufgabe nicht darin, die Jugendlichen zur Revolte anzustacheln und auf diese Weise zu den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen beizutragen. Sie wissen, dass es dafür einen
längeren Atem braucht und, anders als es die „Randgruppenstrategie“ der Nach68er vorsah, andere Kräfte als die der „Randseiter“ unserer Gesellschaft. Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass ihre Strategie darin besteht, die Jugendlichen zur bedingungslosen Anpassung an ungerechte Verhältnisse zu überreden und ihnen den Widerstandsgeist
auszutreiben. Es geht vielmehr darum, mit ihnen gemeinsam die Energie, die aus der spontanen „Empörung über das Unrecht“ kommt, für die Suche nach Lösungswegen zu
nutzen, die sich innerhalb der Spielregeln bewegen, die ein demokratisch verfasstest Gemeinwesen EIGENTLICH akzeptieren müsste und die von daher nicht von vornherein
erfolglos sind, auch wenn sie von denen, die hier oder dort die Macht verkörpern, nicht immer gern gesehen sind: den Mund aufmachen, sich einmischen, für seine Interessen streiten. Auch
mit solchen kleinen Schritten, die die Widerstandspotenziale wach halten (statt sie zu missbrauchen), kann ein sinnvoller Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungsperspektiven geleistet werden Und wenn es manchmal nur bedeutet, auch die großen Probleme mit einer Haltung anzugehen, die einen nicht untergehen lässt – mit ein bisschen Humor nach dem schönen
Motto: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst …“

(erschienen in: „Widersprüche“ – Heft 100 / Kleine-Verlag 2006)

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