Straßensozialarbeit in Berlin

Transkulturalität als Qualitätsmerkmal von Straßensozialarbeit bei Gangway e.V.

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Wir haben es in der Sozialen Arbeit nie mit starren, einheitlichen Kulturen zu tun, sondern mit Kulturen, die sich als Geflecht von Mischungen und Widersprüchen darstellen. Menschen sollten nicht einer bestimmten Kultur zugeordnet werden.
Die kulturelle Identität des/der jeweiligen Sozialarbeiter_in verändert sich mit der Zeit und auch jede_r neue Adressat_in wird wieder eine ganz neue und einzigartige kulturelle Prägung aufweisen, die gesehen und bedacht werden muss.
Im Wissen darüber haben wir transkulturelle Standards erarbeitet.
Dies bedeutet u.a., dass den Qualitätsmerkmalen von Streetwork ein weiteres hinzu gefügt wird:
Streetworkteams setzen sich mit ihren eigenen und gesellschaftlichen Werten, Prägungen und Einflüssen auseinander und fördern diesen Prozess auch bei den Adressat_innen, um so Diskriminierungen und Ausgrenzungen entgegen zu wirken.
Was dies praktisch bedeutet und welches Verständnis dem zugrunde liegt, findet ihr in der Ausarbeitung der Transkulturellen Standards für die Arbeit von Gangway.
Wir befinden uns in einem Prozess. Unser Ziel ist, dass Transkulturalität als Haltung zukünftig in allen Arbeitsbereichen praktisch eine Rolle spielt.

Transkulturelle Standards für die Arbeit von Gangway e.V.

Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, stehen am Anfang zwei Definitionen. Was heißt hier eigentlich Kultur? Und dann noch „Trans“?

Kultur

Es gibt verschiedene Kulturdefinitionen. Kultur im wissenschaftlichen Verständnis bezeichnet die Gesamtheit aller Kenntnisse und Verhaltensweisen in menschlichen Gemeinschaften. Sie steht immer im Gegensatz zur Natur.
Neben Handlungs- und Denkweisen umfasst Kultur auch von Menschen erschaffene materielle Produkte.Kultur ist ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln.
Jeder Mensch ist immer Teil mehreren Kulturen an, d.h., dass menschliche Gesellschaften immer „multikulturell“ sind, egal wo und egal wie viele Menschen ihr angehören.
Kulturen sind nicht angeboren, sie werden erlernt, sie entwickeln und verändern sich ständig und sind heterogen. Es gibt keine objektiven Maßstäbe mit denen ihr Wert gemessen werden kann.
Der Begriff „Kultur“ ist mit Vorsicht zu benutzen. Allzu oft wird er synonym für „Rasse“ oder ethnische Herkunft genutzt und damit ganz automatisch Zuschreibungen für eine Gruppe transportiert. Tatsächlich wird jeder Mensch von vielen unterschiedlichen Kulturen geprägt und beeinflusst. Ethnische Herkunft kann einer dieser Faktoren sein, eventuell aber auch nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Letztlich bildet jeder einzelne Mensch eine eigene Kultur.
Kulturträger_innen sind zum Beispiel: Hippies, Sozialarbeiter_Innen, Hip Hop-Szene, Veganer_innen, Hinduist_innen, (kann beliebig ergänzt werden).

Transkulturaltät oder Interkulturalität?

Interkulturalität geht von der Begegnung zweier oder mehrerer geschlossener und klar definierbarer Kulturen aus. In der Realität, wie wir sie erleben, ist aber jeder Mensch von vielen unterschiedlichen Kulturen geprägt und trägt deren Einflüsse in sich.
Dies beginnt in der Familie, setzt sich über Jugend- und Musikkulturen fort, ebenso kann die Ethnie eine Rolle spielen, aber auch Arbeitskulturen, politische Kulturen, usw.
Das transkulturelle Modell geht davon aus, das wir grundsätzlich Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen finden können, die nicht erst vermittelt werden müssen, sondern entdeckt werden können.
Insofern ist es kommunikativ notwendig, nicht das Trennende in Form von Bildern, Zuschreibungen und Vorurteilen zu betonen und zu verfestigen, sondern zunächst nach Gemeinsamkeiten zu suchen, die eine Verständigung ermöglichen.
Folgende Kompetenzen ermöglichen den Prozess der Verständigung:
Selbstreflexion (z.B.: Wie gehe ich mit eigenen Bildern, Klischees, Vorurteilen um?, Kenne ich diese überhaupt? Welche Zuschreibungen mache ich wem gegenüber? Welche kulturellen Einflüsse haben mich geprägt?, Welche Privilegien habe ich anderen gegenüber?)
Empathie (Neugier auf das Gegenüber, Fähigkeit zur Wahrnehmung von Denk- und Handlungsweisen aus unterschiedlichen Blickwinkeln)
Wissen bzw. Erfahrung (über kulturelle Ausprägungen, Entwicklungen und Hintergründe)
Bereitschaft, Denkweisen und Wissen immer wieder zu hinterfragen und zu erneuern

Gangway e.V. ist fast im gesamten Stadtgebiet Berlins tätig und bewegt sich damit in einer Vielfalt unzähliger „Kulturen“ (z.B. im Platten- bzw. Neubaugebiet am Stadtrand oder am Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg).
Aber auch die Mitarbeiter_innen bei Gangway bringen unterschiedlichste kulturelle Erfahrungen, Wissen und Sozialisierungen mit. Diese Pluralität ist für unsere Arbeit von großer Bedeutung, bringt aber auch immer Konflikte, Aus- und Abgrenzungen mit sich.
Um eine unseren Ansprüchen gerecht werdende Arbeit zu machen, müssen wir uns die unterschiedlichen Vorraussetzungen immer wieder bewusst machen und diese in unser Denken mit einbeziehen.

Persönliche Ebene

Jede Auseinandersetzung mit anderen Menschen braucht eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Alle Menschen haben Vorurteile. Diese ermöglichen häufig erst den Zugang zu Fremde(m)n, weil sie zunächst einen Richtschnur für das Handeln bieten. Es ist notwendig, Vorurteile immer wieder zu hinterfragen und einer Verfestigung entgegen zu wirken. Denn sie sind Annahmen, nicht die Wirklichkeit.
Um Menschen zu begegnen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und sich in ihre Lebenssituationen zu denken, muss die Reflexion der eigenen Position (z.B. Sozialarbeiter), der eigenen kulturellen Einflüsse sowie der eigenen Sozialisation und Erziehung geschehen. Hierzu gehört es auch, sich bewusst zu machen, welche Privilegien man aufgrund von sozialem Status, sozialem Umfeld, Hautfarbe, Geschlecht, Bildung, Migrationserfahrung und -hintergrund etc. gegenüber anderen Menschen hat, welche Erfahrungen man im Gegensatz zu ihnen gemacht bzw. nicht gemacht hat.
Hierdurch werden die Hintergründe eigener Werte, Haltungen, Verhaltensweisen, Vorurteilen, Bildern und Zuschreibungen reflektiert.

Interaktionsebene mit Adressat_innen

In der Arbeit mit den Adressat_innen ist ein neugieriges Kennen lernen sowie ein offener Austausch über ihre Lebenswelten Voraussetzung für eine gelungene (Straßen-)Sozialarbeit. Aufgrund der persönlichen Reflexion kann nun ein Prozess des Verstehens und Nachvollziehens der Haltungen, Handlungen und Reaktionen des/der Adressat_in stattfinden. Hierbei werden die unterschiedlichen Erfahrungen, die persönliche und gesellschaftliche Situation des/ der Adressat_in mit einbezogen.
Auf Festlegungen und Schlussfolgerungen wird verzichtet. Stattdessen muss die Bereitschaft zum Lernen von den Adressat_innen gegeben sein. Dies soll in einem Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit Normen, Werten und Haltungen der Adressat_innen geschehen. Hierbei ist es besonders wichtig auch wahrgenommene Benachteiligungen und Diskriminierungen ernst zu nehmen, auch wenn sie aus der eigenen Perspektive anders erscheinen.
Grenzen der Wertschätzung gibt es bei der Auseinandersetzung mit totalitären und menschenverachtenden Weltanschauungen und Verhaltensweisen.
Die Lebensrealität der Adressat_innen, deren Geschichte, kulturelle Prägungen und deren Position in Familie, Freundeskreis, Lebensumfeld und Gesellschaft muss bei Hilfen und Angeboten berücksichtigt werden.
Ebenso wie auf der persönlichen Ebene werden im Kontakt mit Adressat_innen Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Akteuren in der Arbeit bedacht. Machtverhältnisse zwischen Mehrheit und Minderheit und die damit einhergehende unterschiedliche Anerkennung der Standpunkte, Erfahrungen und Bedürfnisse der jeweiligen Gruppen.

Interaktionsebene mit Mitarbeiter_innen

Die Teams sollen möglichst vielfältig strukturiert und deshalb fachlich breit aufgestellt sein. Es soll einen kontinuierlichen strukturierten Austausch über Erfahrungen, Selbst- und Fremdbild der Mitarbeiter_innen geben. Für Menschen mit gleichem oder ähnlichem kulturellem Hintergrund gibt es die Möglichkeit zur Bildung geschützter Räume,(z.B. in Form von Gesprächskreisen).

Politische Ebene

Die politische Dimension der Arbeit bei Gangway muss sich jede_r Einzelne bewusst machen, sei es z.B. im öffentlichen Raum, im Eröffnen von Zugängen für die Adressat_innen oder im Umgang des Kollegiums untereinander.
Themen, welche die Arbeit betreffen und mit sozialer Ungleichheit, Ausgrenzungen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen verbunden sind, werden thematisiert. Die Entwicklung politischer Standpunkte wird ermöglicht und gefördert.
Die Öffentlichkeitsarbeit ist nach wie vor eines der wichtigsten Methoden der politischen Dimension von (Straßen-)Sozialarbeit.

Praktische Umsetzungen

Auf Grundlage der Transkulturellen Standards für eine diskriminierungsfreie (Straßen-) Sozialarbeit müssen praktische Instrumente zur ernsthaften Auseinandersetzung und Umsetzung dieser geschaffen werden, so z.B.:
Fortbildungen/Thematische Teams:
zu Strukturen von Ausgrenzung und Macht
zur Reflexion der eigenen Sozialisation und der anderer Menschen
zu sozialen und politischen Strukturen unterschiedlicher Communities
Arbeitskreise zu den, für die Arbeit relevanten Rollenbilder (Geschlechter, Gewalt, Erziehung, Sozialarbeite_innen…)
Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle …

 

 

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