Eine gemeinsame Veranstaltung der Friedrich – Ebert – Stiftung und Gangway e.V. vom 11. bis 13.12.2002 in der FES

Themen:

– Armut als sich selbst reproduzierendes System – der familiäre (Sozialhilfe-)Teufelskreis (Frank Stein, Stiftung SPI, Eberswalde, Theo Fontana, MBT BRandenburg, Mirko Petrick, Streetwork, Halle/S.)

– Privileg Bildung? – Armut und Schule (Jürgen Schaffranek, Gangway e.V. Berlin, Erika Biehn, BAG Sozialhilfeinitiativen)

– Schuldenfallen und Auswege (Frank Bertsch, Ministerialrat a.D. + Publizist)

– Impulsreferat Prof. Dr. Peter Schruth, FH Magdeburg: Jugendliche zwischen Schulden, Sozialhilfe und Arbeit

– Migration als Armutsrisiko (nicht nur) für Jugendliche

– (Jugend-)Armut und politischer Extremismus (Peter Steeger, Sportjugendclub Berlin-Lichtenberg, Claudia Röppischer, Streetwork Saalfeld-Rudolstadt)

– Impulsreferat Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Uni Köln

– Impulsreferat und Diskussion: (Jugend-)Armut und Generationengerechtigkeit

– Referat Prof. Dr. Walther Specht, Diakon.Werk d. EKD: Der Armutsbegriff aus Jugendsicht – Konsequenzen für die Sozialarbeit

– Impulsreferat Frank Bertsch, Ministerialrat a.D. und Publizist: Armutsstrukturen und politische Verantwortung in Deutschland

– Impulsreferat Marlene Rupprecht, MdB SPD: (Jugend-)Armut als gesellschaftliches Problem – die europäische Dimension

Ein paar Gedanken über Armut (Philosophie zur Fachtagung „Jugend und Armut“)

Armut ist relativ. Arm sein heißt, ausgeschlossen sein von Ressourcen, die anderen verfügbar sind.
Armut ist nicht gleichbedeutend mit: unglücklich sein. Obwohl der Satz „Geld macht nicht glücklich“ seltsamerweise vor allem von Leuten benutzt wird, die Geld haben.
Armut ist ein weltweites Phänomen. Sie wächst proportional zur Weltbevölkerung und sie und ihre Auswirkungen lassen sich nicht außerhalb der Grenzen von Staaten oder Staatengemeinschaften halten.
Armut in unserem Land hat sich verändert. Sie ist auf dem besten Wege, (wieder) eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit zu werden.
Armut trifft zunächst vor allem die soziale und kulturelle Mittelschicht. Ihre Folgen beschränken sich dabei nicht nur auf finanzielle Aspekte. Arm sein bedeutet immer öfter, den Zugang zur gesellschaftlichen „Mitte“ und zu Ressourcen wie Bildung, Gesundheit, Kultur etc. zu verlieren. In Deutschland haben wir es nicht mit absoluter, sondern mit relativer bzw. tertiärer Armut zu tun. Relative Armut entsteht durch die Einführung einer Armutsgrenze. Der Lebensstandard von Einzelpersonen oder Haushalten wird mit dem durchschnittlichen Lebensstandard der Gesamtbevölkerung in Vergleich gesetzt. Es handelt sich um einen Mangel an Mitteln zur Sicherstellung des Lebensbedarfs auf dem jeweils historisch geltenden, sozialen und kulturellen typischen Standard einer jeweiligen Gesellschaft.
Armut definiert sich nicht selbst, Armut wird von anderen „von oben herab“ diagnostiziert. Kaum jemand gesteht laut ein: „Ich bin arm.“ Die Mehrheit der Armen verbringt ihre Zeit stattdessen damit, auf die zu zeigen, die „noch ärmer dran“ sind. Relative Armut wird in unserer Gesellschaft zunehmend unsichtbar, viele sozial Schwache spielen ihre prekäre Situation herunter; hohe Verschuldung durch Erwerb von prestigeträchtigen Konsumgütern verdeckt die reale Armutssituation und führt in eine Sackgasse.

Der 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung formuliert dazu:
„Von Armut besonders betroffen sind Familien mit Kindern, denn mit steigender Kinderzahl nehmen die Armutsquoten der Familien zu. Dies gilt nicht nur für die Einkommensarmut, sondern auch für die Versorgung mit Wohnraum, für Bildung und Ausbildung, für die Gesundheit, für die sozialen Beziehungen und für die kulturellen Angebote. Familien mit Kindern sind deshalb eher von sozialer Ausgrenzung bedroht. Die sozioökonomischen Verhältnisse erweisen sich für die Familien dabei als instabil und durchaus dynamisch, und sie können deshalb für mehr Menschen als früher zumindest zum vorübergehenden Problem werden. Die Bedrohung mit Armut reicht zeitweise bis in die Mittelschichten hinein, während es andererseits Familien in dauerhafter Armut gibt.“

Armut wird in unserer von der „protestantischen Ethik“ geprägten Gesellschaft oft als privates Defizit angesehen, als eine Art Unglück, das einzelnen „zustößt“. Sie entsteht jedoch nicht von selbst oder aus sich selbst heraus, sondern ist das Produkt eines komplexen sozialen, politischen und ökonomischen Prozesses, der unserer Gesellschaft immanent ist, auch wenn die Wohlfahrt der vergangenen Jahrzehnte viel davon verdeckt, gemildert oder relativiert hat.

Jetzt ist die Armut wieder da, greift um sich, wird sichtbarer. Der Prozess der Verarmung ganzer gesellschaftlicher Gruppen nimmt Fahrt auf und stellt uns vor Fragen, die bereits lange endgültig beantwortet schienen.
Doch auch neue Aspekte sind hinzu gekommen. Im System des Zusammenlebens der Menschen sind besonders in letzter Zeit neue Ressourcen erschlossen worden, die nicht allen zugänglich sind, von denen ausgeschlossen zu sein jedoch fatale Folgen für den Einzelnen haben kann. Stellvertretend seien an dieser Stelle die Wandlung zur Informationsgesellschaft (Computer, Internet, Handy), die Entwicklung zur Konsumgesellschaft („Marken“ – Wahn, Luxusgüter, Shopping als eigenständige Lebensqualität) oder auch die wirtschaftliche, politische oder kulturelle Globalisierung genannt.

Dies alles bedeutet stark veränderte Arbeitsbedingungen für alle von uns, die sich mit Jugendsozialarbeit (auch im weiteren Sinne) befassen. Deshalb ist es wichtig, unsere Sichtweise(n) und damit auch unser eigenes Handeln und seine Perspektiven zu reflektieren.
Wir wenden uns verstärkt dem Phänomen der Jugend-Armut zu, weil wir glauben, dass es dafür an der Zeit ist. Nach unseren Beobachtungen verwandelt sich die Situation des Individuums in dieser Lebensphase von einer „sekundären“ (Familien-) Armut hin zu einer „primären“ (selbst zu verantwortenden) Armut.
Das Armutsrisiko von Jugendlichen in Deutschland wird meist eklatant unterschätzt. Dabei zeigen Statistiken, dass der Anteil von Kindern und Jugendlichen bei Sozialhilfeempfängern sowie Arbeitslosen enorm angestiegen ist, dass zunehmend viele Jugendliche von schlechten Wohnverhältnissen oder gar Obdachlosigkeit betroffen sind.
Jugendarmut tritt auch außerhalb von sozialen Brennpunkten und nicht nur räumlich begrenzt auf; nicht nur Kinder aus Ein-Eltern-Familien sind betroffen. Auch äußerlich „trendige“ Jugendliche mit Markenkleidung und Goldschmuck können durchaus zu Hause unter Mangelernährung leiden.

Es leuchtet ein, das all dies nicht ohne Folgen auf die Entwicklung der Persönlichkeit bleibt. Jedoch: Um welche handelt es sich dabei? Taugen die „alten“ Erklärungsmodelle und Handlungsmuster noch? Welche Institutionen sind heute effektiv, welche überholt? Gibt es bereits neue Antworten? Stellen wir überhaupt die richtigen Fragen?

Wir regen daher einen Gedankenaustausch zu diesem Themenkomplex an, den wir mit einer Veranstaltung in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Gang bringen wollen. Diese soll vom 11. bis zum 13. Dezember 2002 in Berlin stattfinden. Im Folgenden seien einige Stichpunkte dargestellt, die dabei der Orientierung dienen können:

1) Von der „Generation Golf“ zur „Generation SMS“?
Wie wirken sich die veränderten gesellschaftlichen Realitäten (z.B. „Konsumterror“, „Jugendwahn“, Verlängerung der Adoleszenzphase, Verzögerung der Ablösung vom Elternhaus) auf Heranwachsende in unserer Gesellschaft aus?
Wie ist das Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung bei Jugendlichen?
Sind sie sich ihrer eigenen Armutssituation oder der anderer bewusst?
Oder betrachten Jugendliche bereits die Nichtverfügbarkeit der neuesten Markenartikel als Symptom von Armut?

2) Was bedeutet heute „Armut“?
Wie ist die Situation in osteuropäischen Ländern?
Wie reagieren die dortigen Systeme (soweit soziale Sicherungssysteme überhaupt entwickelt sind)?

3) Welche Strategien entwickeln Jugendliche selbst zum Umgang mit der Armut?
Wie (selbst-)bewusst und „strategisch“ gehen sie mit ihrer Situation um?
Welche Selbsthilfe-Strategien haben sie entwickelt?

4) Wie gehen Sozialarbeit und/oder Politik mit dieser Situation um?
Wie haben sich bei den PraktikerInnen die Arbeitsweisen/Strategien verändert – bewusst oder unbewusst?
Stimmen die „alten Theorien“ noch?
(Wie) haben sich die Inhalte solcher Begrifflichkeiten wie „Akzeptanz“, „Lebenswelt-Orientierung“, „Niederschwelligkeit“ etc. verändert?
Wie ist heute das Verhältnis von Prävention und Intervention zu bestimmen?

Ziele unserer Auseinandersetzung sind demnach:
– eine erste Bestandsaufnahme
– der Versuch, allgemeine Tendenzen zu bestimmen,
– der Versuch, eine längerfristige Fachdiskussion anzustoßen und
– eine fachübergreifende Vernetzung zu initiieren.
Augenscheinlich lässt sich diese Diskussion nicht auf Spezialisten eines Arbeitsfeldes beschränken. Sie sollte vielmehr fachübergreifend inszeniert werden und z.B. PraktikerInnen aus den Bereichen Straßensozialarbeit, Mobile Jugendarbeit, Schuldnerberatung, Drogenhilfe, Treberhilfe, Politische Bildung, Kulturelle Jugendbildung, Schule u.ä. mit einbeziehen.

Besonders wichtig ist uns dabei auch der rückblickende Vergleich: Wie war die Situation vor 20 Jahren, welche Antworten bzw. Konzepte wurden damals entwickelt, welche sind heute noch anwendbar und welche werden heute noch angewandt, obwohl sie sich eigentlich überlebt haben?
Wir sind dabei ausdrücklich nicht an einer „Vollständigkeit“ der Diskussion, sonder vielmehr an Originalität und Praxisnähe interessiert.

Im Verlaufe unserer Veranstaltung werden wir uns zunächst mit „Querschnitts-Themen“ befassen, die dann im folgenden durch weiter spezialisierte Themen untersetzt werden sollen.

Mögliche „Querschnitts-Themen“ sind z.B.:
– Armut als gesamtgesellschaftliches Phänomen
– Armut und Biographie
– Bildung und Armut
– Sucht und Armut
– Migration/Integration und Armut

Speziellere Themen wären dann z.B.
– Jugendkriminalität
– Selbsthilfemechanismen von Jugendlichen
– Familie
– Schuldenfalle Handy/Computer
– das Sozialamt – kritisch gesehen
– konsumpädagogische Konzepte

FES: Ein paar Gedanken über Armut (2002, pdf)
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